Augenzeugin: Natalia Wörner erinnert sich. © A. R. Miller
Im Angesicht der Katastrophe: Eine Amateuraufnahme zeigt, wie die gigantische Welle auf die Küste zurollt. © AFP
Es ist ein Privatvideo, das exemplarisch zeigt, wie unbekannt dem Menschen des jungen 21. Jahrhunderts das Phänomen Tsunami war – bis zu diesem 26. Dezember 2004. Auf dem Filmchen von Stefan Kühn sieht man, wie sich am Strand von Khao Lak in Thailand das Meer an diesem Tag plötzlich hunderte Meter zurückzieht, um kurze Zeit später mit zerstörerischer Gewalt zurückzukommen. „Alter Schwede“, hört man Kühn aus dem Off sagen, als in der Ferne eine gigantische Welle sichtbar wird. Schließlich wird dem Urlauber klar, dass ihn und seine Familie nur die sofortige Flucht „nach hinten“ retten kann. „Komm, wir müssen los, wir müssen weg“, hört man ihn rufen, dann sieht man nur noch verwackelte Bilder.
Stefan Kühn hat überlebt, und „Überlebt“ heißt schlicht auch die Dokumentation, die das ZDF kurz vor dem 20. Jahrestag ausstrahlt. Sonja von Behrens und Dirk Kämper porträtieren in ihrem Neunzigminüter unter anderem deutschsprachige Zeitzeugen, die erzählen, wie sie in den betroffenen Regionen die Katastrophe und die Tage danach erlebten. Unter ihnen sind auch die Schauspielerin Natalia Wörner („Unter anderen Umständen“) und der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger mit seiner Familie. Manche von ihnen haben Angehörige verloren.
Sie selbst haben sich retten können, doch insgesamt 230 000 Menschen, darunter mehr als 500 Deutsche, kostete der Tsunami das Leben, fast zwei Millionen wurden obdachlos. Auslöser der Flutwelle war am 26. Dezember 2004 um 7.58 Uhr ein gigantisches Seebeben vor der indonesischen Insel Sumatra. Mit einer Stärke von 9,1 auf der Richterskala war es eines der stärksten Beben, das je gemessen wurde. Im Film zu Wort kommt auch Stuart Weinstein vom „Tsunami Pacific Warning Center“ auf Hawaii. Seine Forschungsstation registrierte das Beben zuerst, doch die Warnungen an die Behörden der Anrainerstaaten des Indischen Ozeans verhallten zumeist ungehört oder sie kamen zu spät. Mit der Geschwindigkeit eines Düsenflugzeugs bewegte sich eine gigantische Welle auf die Küsten zu.
Betroffen waren neben Indonesien, das die Flut zuerst erreichte, vor allem Sri Lanka und Thailand. „Überlebt“ zeigt zahlreiche Amateurvideos von damals, man sieht, wie der Tsunami Menschen und Gegenstände vom Plastikstuhl über Sonnenschirme bis zum Auto mit sich fortreißt, Computeranimationen rekonstruieren und visualisieren die Entstehung und die Auswirkungen der Naturkatastrophe. Demnach erreichten die Wellen eine Höhe von bis zu 30 Metern. Welche Wucht das Wasser hatte, wird am Beispiel eines Zuges deutlich, der auf einer küstennahen Trasse auf Sri Lanka wie Spielzeug aus den Gleisen gehoben wurde – allein hier starben 1000 Menschen, es war das größte Zugunglück der Geschichte.
Die Katastrophe – das zeigen die Bilder dieser Dokumentation trotz aller Zurückhaltung der Macher schonungslos – hinterließ ein Chaos. Überall Zerstörung, überall Leichen und verzweifelte Angehörige. Es begann die Stunde der Hilfsteams, darunter viele Ärzte und Seelsorger, die auch aus Deutschland anreisten. „Wir hatten keine Ahnung, was da auf uns zukommt“, sagt Rechtsmediziner Rüdiger Lessig, der in Thailand half, Opfer zu identifizieren. Wer als Tourist betroffen war und nichts mehr hatte außer dem, was er auf dem Leib trug, konnte nur mit Mühe den Ort des Schreckens verlassen. „Wir waren Flüchtlinge, für ein paar Tage“, erinnert sich Josef Haslingers Sohn Elias.
Dem Tsunami folgte eine Spendenwelle, innerhalb weniger Monate kamen 600 Millionen Euro allein aus Deutschland zusammen, Altkanzler Helmut Kohl, der zum Zeitpunkt der Katastrophe auf Sri Lanka war und nur durch Zufall überlebte, machte sich, auch mit eigenem Geld, für den Wiederaufbau einer zerstörten Klinik in dem Land stark.
„Für viele beginnt mit der Rückkehr ein neues Leben“, heißt es im Film. Manche reisten Jahre später an den Ort des Geschehens zurück, die Traumata begleiten sie bis heute. „Ich konnte erst mal eine Zeit lang gar nicht in der Nähe von Wasser sein. Und nicht nur das Wasser selbst, sondern auch die Geräusche waren für mich fast unerträglich“, erinnert sich Natalia Wörner.
Der Tsunami als singuläre Katastrophe, die sich nicht wiederholt? Wissenschaftler Stuart Weinstein äußert sich skeptisch. Das Ereignis von 2004 sei „ein Weckruf“ gewesen, es brauche Warnsysteme auch im Indischen Ozean, im Mittelmeer und im Atlantik, sagt er: „Denn es ist keine Frage, ob ein weiteres Mega-Erdbeben einen zerstörerischen Tsunami auslösen wird. Es ist nur eine Frage des Zeitpunkts.“
RUDOLF OGIERMANN
Sendehinweis:
Das ZDF zeigt die Dokumentation heute um 20.15 Uhr im Rahmen der Reihe „Terra X History“ und jederzeit in der Mediathek.