Plötzlich mittendrin in einer Geiselnahme: Kommissar Sebastian Bootz (Felix Klare, Mi.) gelingt es, seinen Kollegen Thorsten Lannert (Richy Müller) zu informieren, dass Terroristen eine Filmpremiere in Stuttgart mit Waffen gestürmt haben. © Benoît Linder/SWR
Merke: Sinn für Mode kann über Leben und Tod entscheiden. Da will dein Kollege, dass du für ihn zu einer drögen Veranstaltung mit lauter wichtigen Leuten gehst, nur um sich selbst davor drücken zu können, und kommt mit der total durchschaubaren Schmeichelei, dass dir der Smoking doch viel besser stehe; ein Totschlagargument – das fast zu deinem Todesurteil wird. So geschehen gestern Abend im neuen Stuttgarter „Tatort: Verblendung“. Kommissar Sebastian Bootz (Felix Klare) folgt also – in Anzug statt Smoking – für seinen Kollegen Thorsten Lannert (Richy Müller) besagter Einladung, einer Filmpremiere mit hochrangigen Gästen aus Polizei und Politik – und gerät mitten hinein in eine brutale Geiselnahme.
Was für Publikum und Ermittler folgt, sind 90 Minuten Nervenkitzel. Die Stuttgarter machen Ernst. Das hier ist kein fröhlicher Schmunzelkrimi, wie ihn die Münsteraner mit großer Freude und ebensolchem Erfolg gern bieten (siehe Kasten) . Regisseur Rudi Gaul, der zusammen mit Katharina Adler auch das Drehbuch geschrieben hat, setzt in Stuttgart auf maximale Zwickmühle: Was passiert, wenn das Leben etlicher Geiseln in Gefahr ist, die Geiselnehmer aber Forderungen stellen, die unmöglich zu erfüllen sind? Opfert man die Menschen – oder gibt nach?
Die Berlinerin Anna Schimrigk hat ihren großen Auftritt. Die 1992 geborene Film- und Theaterschauspielerin, die vor elf Jahren beim Theatertreffen Deutschsprachiger Schauspielstudierender in München den Jurypreis gewann, darf auf Popcorn-verklebtem Boden großes Kino zeigen. Wie heißt es häufig? Jemand wirft sich in eine Rolle hinein? Und wie Anna Schimrigk das tut. Sie glänzt als unberechenbare Geiselnehmerin Karin Urbanski, die der „Tatort“-Folge ihren Titel gibt: Diese Frau ist völlig verblendet von der Überzeugung, dass in deutschen Gefängnissen politisch unliebsame Insassen auf Anordnung von ganz oben getötet werden. Sie fordert vom Innenminister (Nicolas Rosat) ein öffentliches Geständnis, dass er persönlich diese Morde angeordnet habe. Falls nicht, muss jede Stunde eine Geisel sterben.
Der Kniff, dass Kommissar Bootz selbst eine der Geiseln ist, ermöglicht es Regisseur Rudi Gaul, aus beiden Perspektiven zu erzählen, aus dem Kinosaal und von draußen, aus der Einsatzzentrale des Krisenstabes. Verbindungsrohr ist Lannert, der immer wieder mit Karin Urbanski telefonisch verhandelt. Auch er stürzt sich in etwas hinein: in die Ermittlungen zu der Frage, ob an den Behauptungen, die die Terroristin aufstellt, vielleicht doch etwas dran sein könnte. Und über allem schwebt durch eine Anfangssequenz, die via Zeitsprung das Ende vorwegnimmt und in der Urbanski einen Schuss auf Bootz abgibt, die Frage: Wird der Kommissar sterben?
Klar könnte man einwenden: Total unrealistisch, dass Lannert während der laufenden Geiselnahme mal schnell im Gefängnis die Inhaftierten befragt, die den angeordneten Tod eines Mit-Insassen miterlebt haben sollen, Überwachungsaufnahmen sichtet – und so aufdeckt, dass Urbanski einer Lügenkampagne rechter Gruppen auf den Leim gegangen ist. Aber das Schöne ist ja, dass fiktionale Erzählungen uns mal für eineinhalb Stunden von jedem lückenlosen Logik-Zwang befreien. So richtig überzeugend sind auch die schauspielerischen Leistungen der Mit-Geiseln von Bootz nicht, die, als die Terroristin sie vor die Wahl stellt, wer von ihnen als Nächstes erschossen werden soll, allzu schnell über das Schicksal ihrer Leidensgenossen abstimmen. Doch darüber sieht man angesichts dieses mitreißend inszenierten Falls hinweg. Gaul gelingt ein politischer Krimi, der demokratische Prozesse höchst spannend hinterfragt. Indem die Kamera im Krisenstab öfter etwas zu lang am Blick von Polizistin Seiler (Amelie Herres) hängen bleibt, meint man schon, sie sei die Komplizin der Terroristen. Eine interessante falsche Fährte in einem Film, der auch durch Sätze wie den Vorwurf „91 Prozent aller Ermittlungen zur Polizeigewalt werden eingestellt. Weniger als ein Prozent verurteilt“ nachhallt.
KATJA KRAFT