Er weiß, wo der Erfolg zu Hause ist: John Grisham ist im Februar 70 Jahre alt geworden und hat weltweit schon 275 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. © Loic Venance
Wer den Namen John Grisham liest, glaubt normalerweise zu wissen, was ihn erwartet: Thriller um Rechtsanwälte, Intrigen und Gerichtsverfahren, Bestseller wie „Die Jury“ oder „Die Firma“. Doch ist er auf dieses Genre keineswegs festgelegt – ganz davon lassen kann er aber auch nicht.
Auch in seinem neuen Roman „Die Legende“ sorgt der US-Autor mit juristischem Gezerre und einem Prozess für Spannung. Dabei geht es im Grunde um viel mehr: um Gerechtigkeit für die letzte Nachfahrin von Sklaven auf einer unheimlichen, kleinen Insel. Um die Verbrechen an schwarzen Menschen. Der 70-Jährige hat eine packende, manchmal mitreißende Geschichte zu erzählen, mit einer starken Figur im Mittelpunkt: einer alten Frau mit dem Namen Lovely Jackson.
Für „Die Legende“ kehrt John Grisham zurück nach Camino Island, zur Buchhandlung Bay Books samt Buchhändler Bruce Cable. Der erzählt einer jungen Autorin von Lovely Jackson, der letzten Nachfahrin einer Gruppe geflüchteter Sklaven, die auf Dark Isle, einer Insel vor der Küste Floridas, vor Jahrhunderten Zuflucht fanden. Genau diese Insel plant sich ein skrupelloser Bauunternehmer unter den Nagel zu reißen – und ein neues Kasino samt Hotels in die Wildnis bauen.
Das will die alte Frau nicht zulassen, sie schreibt ein wenig beachtetes Buch über die tragische Geschichte ihrer Vorfahren – und den Fluch einer der Verschleppten, der dafür sorgt, dass weiße Männer auf der Insel ihr Leben lassen. Sie stellt sich dem Baukonzern in den Weg, um die Wildnis, die vom Sturm zerfetzten Überreste der alten Siedlung und den Friedhof ihrer Ahnen auf der Insel zu schützen. Dabei hat Lovely Hilfe: Neben Bruce Cable vor allem von der Autorin Mercer Mann und Anwalt Steven Mahon.
„Die Legende“ ist kein Thriller im üblichen Sinne. Das liegt vor allem an der Vorgehensweise des Schriftstellers, mit Rückblenden oder gewissermaßen einem „Buch im Buch“, nämlich mit Auszügen aus dem Werk Lovely Jacksons, die Geschichte der verschleppten und gequälten Menschen auf der Insel zu erzählen. Diese Erzählweise schenkt dem Lesenden ein paar Atempausen.
Für Tempo sorgt die juristische Auseinandersetzung – oder fast schon Schlacht. Hier ist Grisham in seinem Element, mit der Juristerei kennt er sich aus. Ein kluger Trick, den Anwalt als eine der Hauptfiguren einzuführen; so scheint es selbstverständlich, dass der mit harten Bandagen geführte Kampf um die Insel vor Gericht endet. Dass er gleichzeitig über die Welt der Schriftstellerei und Autoren erzählt, in der er gleichermaßen zu Hause ist – fast schon ein Geniestreich. Denn zu diesen Themen hat der Autor etwas zu sagen.
Ein typischer Grisham ist der neue Roman sicher nicht – trotz der Gerichtsszenen. Aber auch in den bisherigen Camino-Island-Romanen – bislang gab es zwei – nahm der Autor sich die Freiheit, Bücher zu schreiben, die nicht nach dem üblichen Maß geschneidert sind.
Vielleicht ist John Grisham tatsächlich viel mehr als ein Thriller-Autor – nämlich ein Erzähler. Zwar verfällt er immer wieder in einen nacherzählenden, fast lapidaren Stil, dies aber vor allem, weil er erkennbar viel zu erzählen hat, dass er mühelos den Rahmen des Buchs hätte sprengen können. Dabei lässt er seine Protagonistin Mercer, die als Dozentin arbeitet, ihre Studenten fast schon selbstironisch ermahnen: Ein Buch darf nicht zu lang sein.
THOMAS STRÜNKELNBERG
John Grisham:
„Die Legende“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Bea Reiter und Imke Walsh-Araya, Heyne-Verlag, München, 384 Seiten; 24 Euro.