Späte Leidenschaft: Harry Rowohlt war von 1995 an regelmäßig als Penner Harry in der „Lindenstraße“ zu sehen; hier eine Szene mit Gunnar Solka. © M. Lukaschek/WDR
Beim Barte des Propheten: Harry Rowohlt (1945-2015) hat das Korsett der familiären Erwartungen verlassen – und ein „freies Leben“ gewählt. Am Sonntag jährt sich sein Tod zum zehnten Mal. © Rolf Vennenbernd/dpa
Da sitzt er also während einer seiner Tingeltouren auf einer Bühne dieser Republik, irgendwann in den Neunzigern. „Schausaufen mit Betonung“ nannte Harry Rowohlt diese Auftritte. Links der Whiskey – in diesem Fall: eine Flasche Paddy, die er, kurz bevor er auf die Bühne ist, beim Barkeeper gegen den vom Veranstalter bereitgestellten teureren eingetauscht hat. Rechts der Aschenbecher, die Zigaretten werden im Lauf der nächsten gut vier Stunden nicht ausgehen.
Ja, mit „Lesung“ waren die Rowohlt-Auftritte schon immer unzureichend beschrieben. Zwar las er auch, gewiss. Aus seinen Kolumnen und Kritiken (etwa für „Die Zeit“), aus Übersetzungen (seine legendärsten: „Pu der Bär“ und „Die Asche meiner Mutter“), aus seinen Briefen. Vor allem aber plauderte er, sang zwischendurch ein bisschen was Irisches (sein Sehnsuchtsland), ging mal kurz zur Toilette, plauderte hernach weiter – ganz nach Lust und Laune.
An jenem Abend zog er etwa über den „Ulysses“-Übersetzer Hans Wollschläger her („Koks-Karnickel mit platinierter Nasenscheidewand“) – nicht jedoch, ohne en détail zu erläutern, was ihm nun genau an dessen Übertragung des Romans von James Joyce missfiel. Und er kam auf sein Elternhaus zu sprechen. Ja, sagte Rowohlt, er habe sich schon vorstellen können, in den Rowohlt-Verlag einzutreten. „Wenn ich minder begabt und schwer vermittelbar wäre.“
Der Verlegersohn – er kam 1945 in Hamburg zur Welt, seine Eltern waren Ernst Rowohlt und die Schauspielerin Maria Pierenkämper – wurde nicht, was er werden sollte. Zum Glück. Rowohlt entschied sich für ein „freies Leben“. Dies ist auch der Untertitel der Biografie, die Alexander Solloch zum zehnten Todestag des Multitalents an diesem Sonntag vorlegt. Darin arbeitet der Autor unter anderem heraus, dass die Verlagskarriere nicht so unwahrscheinlich war, wie Rowohlt später gerne suggerierte. Aber für eine gute Anekdote hat er eben die Fakten gerne mal gedehnt.
Solloch, Jahrgang 1978, nähert sich dem Übersetzer, Autor, Schauspieler und Vortragskünstler mit großer Sympathie. Er findet in seinem Schreiben aber auch stets die nötige Distanz zum Porträtierten – vor allem vermeidet er den Fehler, Rowohlts Sprachstil zu imitieren, der bei aller Schnoddrigkeit doch stets enorm präzise war. Zudem hat er für sein Buch einen klugen Zugang gewählt. Statt chronologisch an den Lebensstationen entlangzuschreiben, fasst er Rowohlts Biografie in Themenblöcken zusammen: etwa „Schwer erziehbare Eltern“, „Der Briefsteller“, „Liebe und Freundschaft“, „Straflager und Klapsmühle“ oder „Auf der Bühne“. Das erleichtert Querverweise und Bezugnahmen.
Solloch und Rowohlt kannten einander. Außerdem konnte der Journalist bei der Recherche auf den Nachlass des Vielbegabten zurückgreifen. So schildert seine Biografie ein intensives Leben, das nicht ausschließlich von der Sonne beschienen war. Und er skizziert zugleich ein Stück Kulturgeschichte.MICHAEL SCHLEICHER
Alexander Solloch:
„Harry Rowohlt. Ein freies Leben“. Kein & Aber, Zürich und Berlin, 320 Seiten; 26 Euro.