Bis die Wände wackeln

von Redaktion

Das Deutsche Theater zeigt den Musical-Hit „Kinky Boots“

Einfach genial: High Heels in Männergrößen rettet einen Schuhfabrikanten vor dem Ruin – und vor einem Leben als Hetero. © PAMELA RAITH

Was ist das Schönste auf der Welt? Keine Frage: natürlich Schuhe! Diese Weisheit stammt jedoch keineswegs aus der jüngsten Folge der „Shopping Queen“. Es sind die letzten Worte, die Schuhfabrikant Price seinem Sohn mit auf den Weg gibt. Und genau um diesen Familienbetrieb dreht es sich im Musical-Hit „Kinky Boots“, der aktuell im Deutschen Theater Station macht.

Als Charlie nach dem Tod des Vaters die Firma übernehmen soll, muss er schnell feststellen, dass die Geschäfte alles andere als gut laufen. Doch „Price & Son“ zu verkaufen und ein neues Leben in London zu starten, ist nicht so leicht, wie es sich seine Verlobte vorstellt. Die rettende Idee ist ebenso skurril wie genial. Ein Nischenprodukt muss her, um einen neuen exklusiven Kundenstamm zu erobern. Anders gesagt: High Heels in Männergrößen! Und fürs Design soll die Drag Queen Lola sorgen, die Charlie nach einer durchzechten Nacht kennenlernt und mit ihr das provinzielle Northampton ordentlich aufmischt.

Eine auf wahren Ereignissen beruhende Story, die wie geschaffen ist für ein Musical. Pointenreich adaptiert von Broadway-Legende Harvey Fierstein und aufgepeppt mit neuen Songs von Pop-Ikone Cindy Lauper, die für ihren Bühnenerstling zu Recht mit Preisen überschüttet wurde. Was das Publikum hier aus den Sitzen reißt, ist aber vor allem auch ein Ensemble, über das man eigentlich nur in Superlativen schreiben kann. Allen voran Tosh Wanogho-Maud als Lola. Eine in jeder Hinsicht schlagfertige Diva, elegant von den Zehen bis zum Bizeps. Mit einer Powerstimme, die bei den großen Show-Nummern die Wände wackeln lässt, gleichzeitig aber auch über die nötige Sensibilität für die privaten Momente verfügt. Schon das erste Finale mit dem mehr als passenden Titel „Everybody say yeah!“ schickt das Publikum mit einer ordentlichen Portion Adrenalin und breitem Grinsen in die Pause.

Und diese positiven Energien dürfen sich den ganzen Abend über ungehindert ausbreiten. Gerade weil sich Cindy Lauper auf Kontrastfarben versteht und neben Glam-Pop auch gefühlvolle Soul-Nummern geschrieben hat, in denen Lola und Charlie die Beziehungen zu ihren Vätern aufarbeiten dürfen. Und spätestens wenn man Dan Partridge mit dem bewegenden „Soul of a Man“ gehört hat, weiß man auch, warum Charlie mit seiner nur aufs Business fokussierten Verlobten keine Zukunft haben kann. Aber zum Glück gibt es da ja noch Vorarbeiterin Lauren, deren komödiantische Nummern bei der wunderbaren Courtney Bowman bestens aufgehoben sind. Schließlich sind wir immer noch in einem Musical, wo eine gute Love-Story stets das Tüpfelchen auf dem I bedeutet.

Im Vergleich zur preisgekrönten Broadway-Produktion, die weltweit in die Kinos gestreamt wurde, kommt die Neuinszenierung von Nikolai Foster eine Spur geerdeter, vor allem deutlich britischer daher. Was die Geschichte zu ihren Wurzeln und damit in die 1990er zurückführt. Selbst die Drag-Queens sind da keine Parade von gertenschlanken, langbeinigen Models, sondern rekrutieren sich aus allen Altersstufen und Konfektionsgrößen. Ein absolut brillantes Casting, das dem Ganzen eine wohltuende Authentizität verleiht. Hier steht vor allem die Persönlichkeit der Performer im Zentrum. Und die ist bei Lola und ihre Angels im Übermaß vorhanden. Weshalb es gerade in den Ensemblenummern immer wieder mal passieren kann, dass man mit den Augen fasziniert an einer der höchst individuell gezeichneten Nebenfiguren hängenbleibt. Da gibt es auch vor dem finalen Catwalk auf der Mailänder Fashion-Show schon so viel zu gucken und zu staunen, dass man „Kinky Boots“ eigentlich gleich mehrfach sehen müsste, um alle liebevollen Details zu registrieren. Aber warum nicht?TOBIAS HELL

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