Liebe zur Poesie: In der Doku über Haftbefehl erklingt auch „In meinem Garten“ von Reinhard Mey. © Netflix
Deutschrap hat bei vielen Menschen einen sehr schlechten Ruf. Allzu brutal kommen viele Texte daher, Frauen und queere Menschen sind oft Opfer von Spott oder Gewaltfantasien. Die Netflix-Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“, die in der vergangenen Woche mit ihrem Erscheinen direkt in die Streaming-Charts schoss, ist auf den ersten Blick nicht unbedingt geeignet, diesen Ruf zum Positiven zu verändern. Die Regisseure Sinan Sevinc und Juan Moreno begleiten darin den deutschen Musiker Haftbefehl, der als einflussreichster Rapper Deutschlands gilt. Sie zeigen seine musikalischen Erfolge und sein künstlerisches Genie, aber auch sein Aufwachsen inmitten der Kriminalität von Offenbach am Main, seinen massiven Drogenkonsum und seine Depressionen.
Kritiker und Publikum äußerten sich schockiert von den Einblicken, die die Doku gewährt, weil sie Aykut Anhan, wie Haftbefehl mit bürgerlichem Namen heißt, unter Drogeneinfluss zeigten. Viele andere schätzen den Film genau wegen dessen Authentizität. Nun hat der Film aber einen Moment, der Fans wie Kritiker überrascht haben dürfte. In einer der eindrücklichsten Szenen lässt er aus seinem Smartphone ein Lied ertönen, das ihm sichtlich viel bedeutet und das er auswendig mitsingen kann – „In meinem Garten“ von Reinhard Mey.
Im Jahr 1970 erschienen, besingt das Lied eine Blume und einen Vogel im verwilderten Garten, die trotz – oder gerade wegen – der Fürsorge, die das lyrische Ich ihnen widmet, verdorrt und verschwindet, eine Metapher für die Angst vor Einsamkeit und Verlust. Die Haftbefehl-Doku zeigt, wie diese Themen Anhan sein Leben lang prägten, insbesondere der Suizid seines Vaters, da war Anhan gerade einmal 14 Jahre alt.
Ausgerechnet das zarte, melancholische Stück des inzwischen 82-jährigen Liedermachers Mey entwickelt sich nun unter Deutschrap-Fans zum Internetphänomen. Auf Tiktok oder Instagram posten junge, oft migrantische Haftbefehl-Fans Videos von sich, wie sie „In meinem Garten“ hören oder selbst singen. Bei Spotify landete der Song in der Liste der meistgestreamten Songs in Deutschland am Montag auf dem 20. Platz.
Viele Fans können sich mit Haftbefehls Kunst identifizieren, das zeigt nicht zuletzt auch sein enormer kommerzieller Erfolg. Doch augenscheinlich ist es auch die Liebe zur Sprache, die er mit seinen Fans teilt – sind die doch offenbar auch für Musik wie die von Reinhard Mey zu begeistern, die sich den großen Fragen des Lebens deutlich subtiler nähert.
Hat diese Liebe zur Sprache also das Potenzial, Generationen zu verbinden? Immerhin gab Haftbefehl via Instagram bekannt, dass Reinhard Mey die Doku gesehen und sich bei ihm gemeldet habe. Der Liedermacher habe gezögert, seinen Song zur Verfügung zu stellen, sich aber letztlich überzeugen lassen. Möglicherweise ja der Beginn einer „Bromance“, wie eine Männerfreundschaft neudeutsch gerne genannt wird.
Doch noch sind nicht alle überzeugt von der Bedeutung des Rappers und seines Werks. Das CDU-geführte hessische Kultusministerium stellte sich in der vergangenen Woche gegen eine Forderung des Stadtschülerrats in Anhans Heimatstadt Offenbach. Der wollte Haftbefehl im Unterricht behandeln. „Wenn Schule ein Ort der Lebensrealität sein soll, dann darf sie nicht nur Goethe lesen, sondern muss auch Haftbefehl hören“, so Cengizhan Nas, stellvertretender Stadtschulsprecher. „Seine Sprache ist roh, aber echt – sie zeigt, wie Jugendliche wirklich sprechen, fühlen und denken. Bildung darf das nicht ignorieren.“ Das hessische Kultusministerium sah das anders und erteilte dem Vorschlag mit Blick auf Anhans „Neigung zur Kriminalität“ eine Absage.JANA BALLWEBER