Amy Sellung (Morticia Addams) und Brandon Miller (Gomez Addams). © Lioba Schöneck
Normal? Was ist schon normal? Nun ja, im Grunde ist auch die Normalität vor allem eines: Ansichtssache! Was dem einen merkwürdig vorkommt, ist für den anderen eine lieb gewonnene Tradition oder Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Daran hat schon der amerikanische Zeichner Charles Addams keinen Zweifel gelassen, als er seine Familie und Freunde für einen kultigen Comic-Strip liebevoll karikierte.
Großer Gruselspaß in knackigen 105 Minuten
Für die Bayerische Theaterakademie hat Regisseur Malte C. Lachmann diese witzige Vertonung auf knackige eindreiviertel Stunden komprimiert. Allerdings auch ergänzt um einen Prolog im Gartensaal des Prinzregententheaters, wo sich unter anderem beobachten lässt, wie das Ensemble vom Studiengang Maskenbild mit kunstvoller Hand in gruselige Untote verwandelt wird. Und hier ist auch gleich das erste Sonderlob für die Produktion fällig. Denn die kreative Truppe überbietet sich geradezu gegenseitig mit abenteuerlich hochgetürmten Frisuren und skurrilen Fratzen.
Drinnen im Saal blickt das Publikum zunächst auf eine weitgehend leere Bühne. Nur eine geräumige Requisitenkiste steht da in der Mitte, aus der die Zombie-Parade zu ihrem ersten Auftritt herausklettert, um sich zur schmissig servierten Ouvertüre erst einmal ins Kostüm zu werfen. Und auch ein großes weißes Laken findet sich darin, das im Laufe der Handlung entweder gespenstisch über den Figuren schwebt oder als Projektionsfläche für Schattenspiele dient.
In kühler Schwarz-WeißÄsthetik wird vom Ausstattungsduo Stephan Prattes und Jakob Knapp immer wieder unsere Fantasie aktiviert. Ohne große Bühnenbauten oder Effekte liegt der Fokus ganz auf den Familienmitgliedern. Und mit diesem starken Abschlussjahrgang gelingt das Experiment auf der ganzen Linie.
Amy Sellung gibt die Matriarchin Morticia mit herrlich herablassender Diven-Attitüde und hat mit „Der Tod steht um die Ecke“ einen echten Showstopper. Den ähnlich verrückten, aber durch und durch gutherzigen Gegenpol zu ihr bildet Brandon Miller als Gomez, der keine Pointe unter den Tisch fallen lässt. Bei den Kindern scheinen eher Morticias Gene durchzuschlagen: Als Wednesday hat Melanie Maderegger neben der versteinerten Mimik die stimmliche Power der Mama geerbt. Wie in der nach ihr benannten Netflix-Serie ist die Erstgeborene auch hier die interessanteste Figur des Clans – wenn sie nach der Begegnung mit dem netten Jungen aus der Nachbarschaft plötzlich romantische Gefühle entwickelt und farbige Kleider für sich entdeckt.
Der blonde Mädchenschwarm hört auf den Namen Lucias alias Christian Sattler. Und sein beherztes Werben um Wednesday sichert ihm nicht nur die Sympathie des Publikums, sondern gibt nebenbei auch dem kleinen Bruder Pugsley Gelegenheit für einen tragikomischen Eifersuchts-Song, mit dem die große Stunde von Julia Bergen schlägt.
Mag das junge (Un-)Glück auch im Zentrum stehen: Zu kurz kommen die übrigen Verwandten nicht. Weder Nico Burbes und Svea Harder als Schwiegereltern in spe, deren spießige Fassade bald bröckelt. Noch Tillmann Schmuhl und Valeria Purzer, die das angespannte Familientreffen mit ihren absurd komischen Auftritten als Fester und Grandma ebenso wenig entschärfen wie Bjarne Renz, der als stummer Butler im Frankenstein-Look die Lacher auf seiner Seite hat.
Für Halloween ist die Theaterakademie mit dieser Produktion zwar ein bisschen spät dran. Aber Familie Addams würde sicherlich beipflichten, dass morbider Gruselspaß keineswegs nur den vom Kalender verordneten Tagen vorbehalten sein muss. Das wäre viel zu „normal“!TOBIAS HELL