Gemeinschaftsarbeit: Schülerinnen und Schüler fertigten Wandbehänge mit familiären Dinggeschichten. © Schemmel
Da ist zum Beispiel die Wanduhr mit den Meerjungfrauen. Die „Meerwiefkes“ stehen für die enteilende Zeit – sie flitschen durch die Finger, lassen sich nicht fassen. Solche Uhren wurden im 17. und 18. Jahrhundert in Holland hergestellt. Eine wurde über Umwege aus Ostfriesland nach München vererbt, und der Urenkel erzählt nun die Geschichte dieser Uhr – in Form eines Wandbehangs. „Dinge, die Respekt verdienen“ heißt die Ausstellung in der Akademie der Bildenden Künste.
Schülerinnen und Schüler aus den Klassen 6a und 6b des Münchner Theresien-Gymnasiums (ThG) sammelten im vergangenen Schuljahr die Geschichten bedeutsamer Dinge aus ihren Familien. Mit Unterstützung von Lehramtsstudierenden zeichneten sie die Erbstücke ab, schnitten ihre Umrisse aus Stoff aus und benähten und bestickten so elf große Wandbehänge. Nun prangen diese im der Mensa in der Akademie, und Besucher bewundern die virtuos gefertigten Kunstwerke.
Dabei steht die „Meerwiefke“-Uhr für das heimliche Thema der Ausstellung – Zeit. Dinge überdauern die Zeit, und es braucht Zeit, ihre Geschichten zu erzählen. Auch ThG-Kunstpädagogin Annette Schemmel hat, gemeinsam mit Professorin Notburga Karl, viel Zeit in das Projekt gesteckt. „Kleine Familientraditionen wollen erzählt werden“, sagt sie.
Es geht also nicht nur um Dinge, sondern um den Umgang damit – das Motto „Respekt“ verleiht dem Ganzen eine ethische Tiefe. Respektvoll war schon die Herangehensweise. „Die Kinder haben in ihren Familiengeschichten geforscht, sie sich im Kunstunterricht gegenseitig erzählt und einander zugehört, dabei die Dinge der anderen gezeichnet und über besondere Worte für die Dinge auch ihre Herkünfte besser verstehen gelernt“, so Schemmel. Das gemeinschaftliche Arbeiten hat den Schülerinnen und Schülern besonders gefallen: „Das Nähen war schwierig, aber zusammen ging es gut“, sagt eine von ihnen. Besonders beeindruckt hat sie die Geschichte von der alten Armbanduhr, die man schütteln muss, damit sie geht.
Gegenstände verbinden mit Menschen und mit Orten, sie sind Teil der eigenen „Lebens-Geschichte“. Forschungszweige aus Psychologie, Soziologie und Ethnologie beschäftigen sich damit, wie Materielles zum Kulturverständnis beiträgt, welche sozialen Werte Dinge transportieren, wie sie die Identitätsbildung befördern. Dinge an sich sind stumm, aber in der Bindung an den Menschen vielsagend – und darum verdienen sie Respekt.
Zum Beispiel auch der weiße Krug. Ein Forstmeister in Böhmen schenkte ihn einst seinem Dienstmädchen zur Hochzeit. Er überstand Krieg und Vertreibung. Heute steht er in einer Münchner Wohnung – und sein Abbild prangt nun, mit Stoffblumen verziert, an der Mensawand. Daneben ist etwa eine vietnamesische Maske zu sehen, die zu Neujahr getragen wird, oder eine beklebte Zigarettenschachtel, in der ein Opa seine in der Kriegsgefangenschaft geschriebenen Gedichte aufbewahrt hat. Außerdem zu sehen zwei weitere Uhren. Angesichts der ungreifbaren Zeit halten sich die Menschen an den Dingen fest.SARAH ESCHEMANN