Es gibt sie: die Bildungsverlierer. Denn Anwesenheitspflicht im Distanzunterricht und mehr Endgeräte allein reichen nicht aus, um zu verhindern, dass Kinder durchs digitale Netz fallen. Das bestätigt auch die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), Simone Fleischmann. Es braucht einen Schutzschirm für Kinder.
Welche Rückmeldungen bekommen Sie aus den Schulen?
Wir haben seit März zwar viel dazugelernt, aber trotzdem sind wir weit von einer Normalität entfernt. Und vieles läuft eben nach wie vor alles andere als optimal.
Gibt es Kinder, die zu den Bildungsverlierern gehören?
Die Schließungen haben am härtesten die Kinder getroffen, die weniger privilegiert sind. Sie haben auch schon vor der Pandemie zu den Bildungsverlierern gehört, und das hat sich durch die Pandemie noch verschärft. Um diese Kinder machen wir uns große Sorgen. Vor allem Kinder mit Beeinträchtigungen, die eben nicht selbstständig lernen können, gehen im Netz verloren.
Was sind das für Schwierigkeiten, mit denen diese Kinder zu kämpfen haben?
Wir haben zum Beispiel Kinder, die nicht allein lernen können und von einem schwierigen Setting zu Hause zusätzlich behindert werden. Diese Kinder haben zu Hause keine Wohlfühlatmosphäre, in der sie sich konzentrieren können. Sie fallen nicht nur durchs digitale Netz, sondern vor allem durchs soziale Netz. Corona hat deutlich gezeigt, dass Schule eben weit mehr ist als Mathe, Deutsch und Physik. Diesen Kindern fehlt das Lächeln der Lehrer*innen, in der Pause die Freunde, mit denen sie auf dem Schulhof rangeln können, ein warmes Mittagessen, die Förderlehrer*innen in der Ganztagsbetreuung, die sie motivieren. Es gibt einfach viele Kinder, die uns Lehrer brauchen, als ganzen Menschen – quasi vom kleinen Zeh bis zur Haarspitze.
Mehr Endgeräte helfen also allein nicht weiter?
Nein, das ist viel zu kurz gegriffen, die fehlenden Geräte sind nur ein kleiner Teil der Lösung. Es ist natürlich gut, dass es Leihgeräte gibt. Aber es gibt auch Eltern, die Endgeräte gar nicht anfordern, selbst wenn sie zur Verfügung stehen. Manche Eltern schämen sich, weil sie sich Geräte nicht leisten können oder auch, weil sie Angst haben zuzugeben, dass sie mit den Geräten nicht umgehen können. Das viel größere Problem aber ist, dass Kinder – und das betrifft nicht zwangsläufig finanziell schwächer gestellte Familien – mit den Geräten allein nichts anfangen können. Sie brauchen Unterstützung und Anleitung von uns Lehrern. Es kann noch so schöne Tools geben. Sie werden diese Kinder nicht auffangen, denn Bildung basiert auf Beziehungen zu echten Menschen.
Trifft es hier Kinder mit Lernschwächen oder anderen Beeinträchtigungen besonders hart?
Ja, weil die Schwächen zu Hause in voller Härte aufschlagen. Es ist ja nicht so, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten es per se nicht schaffen, ein Arbeitsblatt zu bearbeiten. Was ihnen fehlt, ist der Tagesrhythmus, eine helfende Hand, der Zuspruch, die Möglichkeit, in Kleingruppen Schwächen aufzufangen, der Beratungslehrer, der Schulbegleiter – eben all das, was das Schulnetz mit all seinen Möglichkeiten unter normalen Bedingungen bietet. Ich würde mir wünschen, dass die Politik hier mehr Geld für Personal in die Hand nimmt, und nicht nur in Hardware investiert.
Haben Lehrer und Lehrerinnen überhaupt Möglichkeiten, persönlichen Kontakt zu Kindern zu bekommen, die sprichwörtlich vom Radar verschwinden?
Aus der Pandemie müssten bildungspolitische Konsequenzen gezogen werden. Wir brauchen so etwas wie eine „aufsuchende Erziehungs- und Jugendarbeit“ und zwar möglichst schnell! In der Kinder- und Jugendhilfe gibt es diesen Ansatz bereits. Das sind Menschen, die zu den Kindern nach Hause gehen. Das haben übrigens viele Kollegen und Kolleginnen in der ersten Welle bereits gemacht. Sie sind vorbei geradelt und zwar nicht, weil sie nicht digital vernetzt waren, sondern weil sie sich Sorgen um ein Kind gemacht haben, das in keiner Videoschalte mehr auftauchte, keine E-Mails abrief und dessen Eltern telefonisch nicht erreichbar waren. Für diese Kinder braucht es aktuell und schnell ein engmaschiges Netzwerk: Förderlehrer, Jugendsozialarbeit, Beratungsfachkräfte, die in die Familien gehen, Blickkontakt haben. Kinder können nicht in einer App sagen, wie es ihnen geht. Dazu braucht es menschlichen Kontakt.
Hier braucht es aber Regeln, die aufzeigen, in welchem Rahmen sich Schulen bewegen können.
Ist das unter aktuellen Bedingungen möglich?
Da müssen wir uns überlegen, wo wir die Prioritäten setzen und was wir eigentlich wollen. Wenn wir Kinder weder digital noch telefonisch erreichen, brauchen wir den Kontakt. Es ist so viele Geld in die Digitalisierung gesteckt worden und das ist auch gut so. Aber wir brauchen jetzt ein Netzwerk, akut, das die auffängt, die nicht mehr erreichbar sind. Wir haben zwar eine Anwesenheitspflicht im Distanzunterricht, aber wir müssen klären, was Lehrer*innen tun können, wenn Kinder nicht erreichbar sind, oder klar wird, dass es einem Kind nicht gut geht.
Findet dieses Thema ausreichend Beachtung?
Keineswegs. Geht es um Schulen, dominieren Fragen rund um das Abitur und um die Abschlussklassen die öffentliche Diskussion: Klausuren, Termine, Noten – es geht um Leistung. Wir müssen uns aber unabhängig von der Pandemie generell fragen, was der Auftrag von Schule sein soll? Was wollen wir von Schule und legitimieren wir uns ausschließlich über Leistung?
Interview: Katharina Vähning