Unbekanntes Deutschland

von Redaktion

Wie schön, dass es im eigenen Land noch viel zu entdecken gibt – sogenannte Secret Places

Gut 7000 Japaner leben in Düsseldorf. Die meisten von ihnen arbeiten für knapp 400 in der NRW-Hauptstadt ansässige japanische Firmen, meist gut bezahlte Spezialisten. Und für sie gibt es dort alles, was das japanische Herz begehrt: die japanische Buchhandlung „Takagi“ mit den neuesten Mangas. Japanische Friseure, die mit den dicken Haaren der Japaner gut zurechtkommen. Oder ein japanisches Reisebüro, in dem keine Flüge nach Tokio, sondern Ausflüge nach Rüdesheim oder Rothenburg ob der Tauber gebucht werden. Die japanische Inhaberin Mina Araghi erklärt: „Ich verkaufe deutsche Reiseromantik an japanische Sehnsüchte.“

Little Tokio mitten
in Düsseldorf

Die Immermannstraße ist das Zentrum von Little Tokio: Im Umkreis von 50 Metern finden sich ein japanischer Supermarkt, ein Massagesalon, ein japanischer Tee-, Porzellanladen sowie drei japanische Restaurants. Allerdings gibt es weder Tempel noch Shinto-Torii, die roten japanischen Eingangstore. Für den einzigen japanischen Tempel in Europa, inklusive japanischem Garten, Kirschbäumen und -blüte im April und Mai, fährt man einfach in den Düsseldorfer Stadtteil Niederkassel. (www.visitduesseldorf.de)

Wie schräg ist das
denn in Thüringen?

Wer schiefer Turm sagt, meint Pisa, doch der schiefste Turm der Welt mit natürlich entstandener Neigung steht in Thüringen: Gräulich und angeschlagen sieht der Turm der Oberkirche zu Bad Frankenhausen aus. Den 25. April 1382 nennt die Chronik als Tag der Fertigstellung der Kirche. Was damals keiner wusste: Das ganze Kyffhäusergebirge, in dem Bad Frankenhausen liegt, ist laut Geologen so löchrig wie Schweizer Käse …

„Offiziell“, so Bärbel Köllen, Vorsitzende des Fördervereins der Kirche, „gibt es zwar in Suurhusen, Ostfriesland, einen 27 Meter hohen Kirchturm mit 5,19 Grad Neigung. Unsere Oberkirche hat nur 4,93. Aufgrund der doppelten Höhe ist der Frankenhausener Turm mit 4,60 Meter Überhang vom Lot klar schiefer als der ostfriesische Turm mit 2,47 Meter.“ Sogar Touristen aus Pisa reisen an, um „den noch schieferen Turm zu sehen“, so Bärbel Köllen. Wem das nicht reicht: Auch das größte Leinwandgemälde der Welt hängt in Bad Frankenhausen, im Panorama Museum: Es ist 123 Meter lang und 14 Meter hoch, was 1722 Quadratmeter ergibt. Künstler Werner Tübke malte täglich, vier Jahre lang, bis die „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ rechtzeitig zum 40-jährigen DDR-Jubiläum fertig wurde. Nur zwei Monate später kam es zum Mauerfall, und die DDR gab es nicht mehr: ein Treppenwitz der Geschichte. (www.oberkirchturm.de)

Cottbus – Pyramiden
wie im alten Ägypten

Pyramiden erwartet man in Ägypten, aber nicht in Cottbus. Aber genau dort, im Branitzer Park, finden sich die beiden einzigen Erdpyramiden in Europa.

Bauherr war Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785-1871), ja, der, nach dem die Eiscreme benannt wurde. 1838 bis 1840 war er in Ägypten und besuchte zahllose Pyramiden. Doch anders als in Ägypten ließ Pückler seine Pyramiden ab 1856 nicht aus Stein errichten, sondern aus Erde aufschütten. Dann wurde ein See angelegt, den man heute mit einem Kahn umrunden kann. Gizeh und der Nil standen Pate für die Pyramide im See, und Sakkara war Vorbild für die stufenförmige Landpyramide, die vier Jahre später gebaut wurde, da viel Aushub vorhanden war.

Ein Grab in einer Erdpyramide war damals weltweit einmalig. Im Vergleich zur Cheops-Pyramide von Gizeh (139 Meter) sind die 13,50 Meter zwar mickrig, aber Pückler befahl noch zu Lebzeiten die chemische Zerstörung seines Körpers nach seinem Tod. So wurde das entnommene Herz mit Schwefelsäure übergossen und der Leichnam in ein mit Ätznatron durchtränktes Tuch in einen Metallsarg gelegt. Er fand sein Bestattungsvorhaben wohl schlicht standesgerecht: Als wäre er ein Pharao gewesen… (www.pueckler-museum.de)

Europas kleinste
Sprachinsel

Das Ausland beginnt für Saterländer gleich hinterm Moor. Räumlich beträgt die Distanz meist kaum mehr als fünf Kilometer. Sprachlich liegen Welten dazwischen. Diese Tatsache brachte die Saterländer 1990 als „kleinste Sprachinsel Europas“ ins „Guinnessbuch der Rekorde“.

Das Saterland, eine Gemeinde im Nordwesten Niedersachsens, war noch bis ins 19. Jahrhundert nur mit dem Schiff zu erreichen. Bis dahin hatten die Saterländer so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt. Und abgeschirmt durch ihr Moor, konnte sich dort die kleine Sprachinsel erhalten: Sie liegt auf einer 15 Kilometer langen und bis maximal vier Kilometer breiten Sandinsel inmitten von Mooren im Nordwesten Niedersachsens. Von den 13000 Einwohnern sprechen noch etwa 2000 Saterfriesisch. Damit das so bleibt, wird die Sprache vor Ort noch immer an den Schulen unterrichtet. Doch damit nicht genug. Das Saterfriesische wird in jedem der vier Dörfer in einer anderen Dialektform gesprochen.

Die Moorflächen prägen zwar noch immer das Landschaftsbild, doch von der inselgleichen Abgeschiedenheit des Saterlands ist heute nicht mehr viel zu sehen. Flurbereinigung und Torfabbau haben dazu geführt, dass die Gemeinden im Moor nur mehr aus der Vogelperspektive erkennbaren Inselcharakter haben. (www.saterland.de)

Ein Kanal als
Ganges-Ersatz

Bergbau noch bis 2010, Stahl, Chemie: Hamm ist keine aufregende Stadt. Aber in Hamm kann man ein authentisches Stück Indien erleben. Im Industriegebiet von Hamm-Uentrop steht der größte Hindu-Tempel Kontinentaleuropas auf 27 mal 27 Meter, mit einem 17 Meter hohen Gopuram, dem Eingangsturm. Wie der nach Hamm kam? „Es war Gottes Wille“, sagt Hindu-Priester Arumugam Paskaran.

Auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka führte ihn eine Odyssee über Moskau und Berlin Richtung Paris. „Während der Zugfahrt hatte ich plötzlich großen Hunger, und ich stieg einfach aus“, erzählt der Mann mit dem langen weißen Bart. „So kam ich nach Hamm. Und ich blieb.“ Noch im gleichen Jahr, 1989, baute sich Paskaran einen Schrein in seine Wohnung. 2002 folgte der große Tempel. 45000 Hindus leben in Deutschland, „alle gut integriert“, glaubt Paskaran: „Viele haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit, fast alle sind berufstätig, in allen Schichten, vom Arbeiter bis zum Akademiker.“

Für viele westliche Betrachter wirkt der Hinduismus mit seinen Skulpturen, Mythologien und unzähligen Hindu-Gottheiten wie eine Mischung aus Religion, Kult und Fantasy. Allein im Tempel von Hamm findet man 200 Gottheiten.

Der Duft von Räucherstäbchen liegt in der Luft: Eine der drei täglichen Zeremonien ist im Gange, sehr anmutig trotz ohrenbetäubender Trommeln. Für Waschungen geht’s 300 Meter weiter unter eine triste Brücke am Datteln-Hamm-Kanal. „Unser Ganges-Ersatz“, sagt der Priester. Zum jährlichen, zwei Wochen dauernden Tempelfest – dem größten Hindu-Fest Deutschlands – kommen 15000 Menschen. Bei ekstatischen Tänzen und Kasteiungen stechen sich manche Gläubige Spieße, Haken und Nägel in Mund, Wangen oder Rücken. (hinduistische­ gemeinde-deutschland.de)

Little Berlin in
Oberfranken

Eine Grenze durch das oberfränkische Mödlareuth mit heute knapp 50 Einwohnern gab es schon lange, aber nie eine Mauer. Bis zum April 1966. Dann wurde sie binnen zwei Monaten hochgezogen: 700 Meter lang, drei Meter hoch, ein Eiserner Vorhang mit Todesstreifen, auch Schüsse hörte man, bis zur Wende 1989. Einen Checkpoint, wie in Berlin, gab es nicht. Also war es nicht möglich, diese menschenverachtende Grenzmauer zu überwinden. Familien wurden getrennt, Freundschaften, der ganze Ort… Es war sogar verboten, von Ost nach West zu winken.

Die heute zu sehenden Nachbildungen von Mauer, Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen wirken schon beklemmend. Wie muss da erst die echte Mauer gewirkt haben? Und warum gab es die Mauer ausgerechnet in Mödlareuth?

1810 wurden entlang des Tannbaches erste Grenzsteine gesetzt. Die eingemeißelten Initialen KB für das Königreich Bayern auf der westlichen und FR für das Fürstentum Reuß auf der östlichen Seite dokumentieren die Grenzziehung. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kam der Westteil Mödlareuths zu Bayern, der Ostteil zu Thüringen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lag Mödlareuth-Ost aber in der sowjetischen und Mödlareuth-West in der amerikanischen Besatzungszone. So wurde das kleine Dorf zu Little Berlin. Einblicke geben Dokumentationen und die Exponate im Deutsch-Deutschen Museum vor Ort: Gänsehaut-Feeling garantiert! (www.moedlareuth.de) Jochen Müssig

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