Am 20. November 1924 erschien Thomas Manns epochaler Roman „Der Zauberberg“. Sein Titel ist zum Kosenamen des Schweizer Luftkurortes Davos geworden. Lebt der Mythos auch ein Jahrhundert später? Eine Spurensuche vor Ort.
Seit einem Vierteljahrhundert bin ich Nichtraucher. Jetzt aber muss ich mir eine anzünden. Mit glimmender Zigarre im Mundwinkel liege ich in der Kälte auf dem Balkon von Zimmer 307. Ich will mich fühlen wie ein Sanatoriumsgast im frühen 20. Jahrhundert, ohne krank zu sein. Oder wie der Zigarren verehrende Hans Castorp, Protagonist in „Der Zauberberg“. Castorp bezieht darin Zimmer 34, das im heutigen Berghotel Schatzalp nicht existiert. Eines Nachts begibt Castorp sich zur Liegekur auf den Balkon, bei klirrender Kälte, eingewickelt in eine dicke Decke, wie sie für Patienten – und heute jeden Hotelgast – bereitliegt.
Der epochale Gesellschaftsroman spielt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in einem der realen Welt entrückten Paralleluniversum in in einem Sanatorium in Davos. Im Zentrum steht Ingenieur Hans Castorp aus Hamburg, der auf Krankenbesuch ist, um Zeit mit seinem Vetter Joachim zu verbringen. Er plant, einige Wochen zu bleiben. Doch aus seinem Aufenthalt werden Jahre. So lange will ich nicht bleiben.
Aber bin ich richtig hier? Geht es um das ideelle Erbe des „Zauberbergs“, beanspruchen zwei Hotels, beides ehemalige Sanatorien, Inspirationsquelle für Thomas Mann gewesen zu sein: das Berghotel Schatzalp und das Waldhotel.
Als Zweiteres noch Waldsanatorium hieß, ließ die Frau des Literaturnobelpreisträgers, Katia, dort einen Lungenspitzenkatarrh behandeln. 1912 besuchte Thomas Mann sie. Nachdem Medikamente gegen Tuberkulose auf den Markt kamen, wurden die meisten Davoser Sanatorien in Hotels umgewandelt. Die medizinische Vergangenheit tilgte man im Waldhotel bei einer Sanierung 1958. „Man wollte sich von dem Tuberkulose-Image lösen, also überdeckte man fast alle historischen Spuren“, sagt Direktorin Marietta Zürcher. Ein zeitgenössisches Sanatoriumszimmer aber wurde in eine Art Mini-Museum umgewandelt mit medizinischem Gerät und „Blauem Heinrich“, einem Taschenspucknapf. Dann zeigt mir Zürcher die Tür zum Speisesaal. Im Buch lässt Madame Chauchat die Pforte zum Speisesaal lautstark zufallen – und weckt damit Hans‘ Unmut, der später in tiefe Gefühle übergeht. „Vieles ist fiktiv, die Tür ist ziemlich sicher.“ Stadthistoriker Klaus Bergamin dagegen weiß, Mann habe Details nie genau verortet. „Er hat nie gesagt, genau da oder da spielt eine Szene.“
„Berghof“ heißt ein Sanatorium fiktiv im Roman, das auf der Schatzalp liegen soll. Wer mit der Schatzalp-Bahn in die Höhe fährt, sieht die blätternde Jugendstilfassade des heutigen Hotels. Die Atmosphäre auf knapp 1900 Metern ist entrückt. Als Hotelgast isst man mit Besteck, das die Patienten schon vor hundert Jahren benutzten. Die Messinglampen, die Kerzenständer, der Terrazzoboden, vieles im Speisesaal sei original, sagt Direktor Bernardo. Dort, wo geröntgt wurde – eine neue Medizintechnik, von Mann beschrieben – befindet sich die „X-Ray Bar“ mit beleuchtbaren Wänden, an denen Ärzte die Bilder anschauten.
Es war der Mannheimer Mediziner Alexander Spengler, der das Höhenklima zur Heilung im 19. Jahrhundert empfahl. „Er befand die Davoser Luft besser als anderenorts“, sagt Historiker Bergamin. Auch Kaiser Wilhelm II. hörte vom Luxussanatorium mit elektrischem Licht und Fußbodenheizung auf der Schatzalp. Er ließ sich drei Zimmer mit großen Badewannen von 1905 bis 1918 dauerhaft reservieren. Die kaiserlichen Wannen lassen sich noch bestaunen, auch der von dunklen Eisengittern umhegte Lift tief im Gebäude, wo die „kalten Abreisen“ stattfanden. Verstarb ein Patient, wurde der Sarg mit dem Aufzug zum Hinterausgang befördert, im Winter wurden die Kisten mit den Toten auf offenen Bob-Schlitten weggebracht. Heute kann man sich Holzschlitten ausleihen und auf der hoteleigenen Schlittelbahn ins Tal sausen. Stefan Weißenborn/dpa