Italien erwandern

von Redaktion

Auf dem Franziskusweg von Florenz nach Rom

Beliebt bei Pilgern: Lourdes und der Franziskusweg.

Entschlossen ziehe ich die schwere Eingangstür zur Abtei von Farfa hinter mir zu. Eine Nacht habe ich hier verbracht und Kraft gesammelt für das, was vor mir liegt. Nichts regt sich um mich herum. Es ist halb sechs Uhr morgens: Wer außer mir will da schon zu Fuß ins 60 Kilometer entfernte Rom gehen?

Ich habe mir aber in den Kopf gesetzt, die Hauptstadt noch heute zu erreichen. Und bin folglich dabei, eine überschaubare Heldentat zu vollbringen oder eine grandiose Dummheit zu begehen. Dabei tippe ich eher auf das zweite. Der Wahrheit zuliebe zieht mich noch etwas ganz anderes nach Rom: Die Aussicht auf eine der 150 Eissorten der Gelateria della Palma beim Pantheon lässt meine Beine beinahe wie von selbst vorwärtslaufen.

Die Wirbelsäule Italiens

Fünfhundert Kilometer Franziskusweg liegen hinter mir. In Florenz war ich aufgebrochen und hatte in meinem einfachen Pilgeroutfit einen wunderbaren Kontrast zu der wohlhabenden Renaissancestadt geboten. Hochgewachsene Damen waren an mir vorbeigestöckelt. Sie hatten heute bereits die Mode von morgen getragen, ihre Handtaschen waren einen Gebrauchtwagen wert.

Sofort darauf war es bergauf und bergab gegangen. Immer wieder hatte mich der Franziskusweg zu entlegenen Dörfern geführt, die auf Hügelspitzen balancieren, dass man beinahe Angst bekommt, sie könnten von dort herunterfallen. Der Apennin ist in jeder Hinsicht die Mitte Italiens. Er ist die 1500 Kilometer lange Wirbelsäule des Landes.

Ich sauge die Luft ein; sie schmeckt fruchtbarer als bisher, eine Prise Mittelmeer schwingt mit. Ob daher der Ausdruck „Aroma“ kommt – „nach Rom“ also, dem Geschmack der Zivilisation entgegen? Es muss wohl so sein. Wie ein in der Bewegung erstarrter Ozean liegt das Land vor mir. Geschwungene Hügel wechseln sich mit gewellten Talböden ab, als hätte ein Kalligraf diese Landschaft mit gekonntem Pinselschwung entworfen. Weit draußen fahren Bauern in großen Maschinen die Ernte des Jahres ein.

Immer weiter nach Süden also, in jene Himmelsrichtung, die gleichzeitig ein Versprechen ist. Hier fühlt sich wohl, wer das Leben nah bei anderen verbringen will. Der Norden ist für Nachdenkliche, der Süden ist ein Rausch, ein Fest für alle Sinne. Ich lasse Fara in Sabina links liegen und gehe an Obstgärten entlang und durch pittoreske Wäldchen hindurch zum Städten Canetto.

In der dortigen Bar achte ich strengstens darauf, keinen Espresso zu ordern. Das habe ich unterwegs gelernt. Beim italienischen „Caffè“ handelt es sich nämlich bereits um einen Espresso, und an der Verwendung dieses vermeintlich so typisch italienischen Wortes erkennt man den Ausländer, der auch „mille grazie“ sagt statt „grazie mille“.

Unterwegs auf uralten Pilgerpfaden

Doch trotz meines Wissens rund um den „Caffè“ verhalte ich mich ziemlich „unitalienisch“. Ich mache alles andere als eine „bella figura“: Meine Hosenbeine sind bis zu den Knien mit Matsch besprenkelt, Erdklumpen und tote Fliegen kleben an ihnen. Auf meinem T-Shirt hat der Schweiß weißgraue Schlieren gezogen. In der Bar von Canetto habe ich ungewohnt viel Platz. Ich meine zu wissen, woran das liegt. „Voglio il tuo profumo“, schmachtet Gianna Nannini mit wunderbar rauchiger Stimme in einem ihrer größten Hits. „Ich will deinen Geruch.“ Mir würde sie das derzeit wohl eher nicht flüstern.

Gleich nach der Bar treffe ich auf einen blau-gelben Wegweiser. Via Francigena steht darauf. Von hier an folgen beide Fernwanderwege der uralten Nomentana, einer Straße, die bereits die Römer angelegt haben. Sie bringt Pilger seit anderthalb Jahrtausenden verlässlich nach Rom. Gut zwanzig Kilometer liegen hinter mir, als ich in Montelibretti das zweite Croissant und den dritten Espresso des heutigen Tages zu mir nehme. Die Landschaft legt sich nochmals mächtig ins Zeug. Sie wartet mit Weinreben und Olivenhainen auf, reiht getreidegelb leuchtende Hügel aneinander und bietet mir fruchtbare Täler zur Durchquerung an.

Auf Tre Ponte – drei Brücken, die über ein Flüsschen führen – folgt ein geräumiges Gehöft, hinter dessen Westseite ich Monterotondo erkenne. Dort angekommen, bestelle ich bei einer dauerkichernden Kellnerin ein Brötchen mit Hühnchen, dann ein zweites mit Thunfisch, schließlich wieder eines mit Hühnchen, gefolgt von zwei Schokoriegeln und einer kleinen Tüte Chips, die ich mit einem Eistee und zweieinhalb Litern Wasser hinunterspüle.

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Auf den kommenden zwölf Kilometern überrascht mich die Nomentana mit einem Geschenk. Der Weg schlängelt sich durch das Naturreservat Marcigliana, das in schönem Kontrast zur direkt dahinterliegenden Metropole saftige Wiesen bereithält. Meine Schritte werden weicher, mein Gang lockerer: Ich bin bereit für Italiens Hauptstadt.

Alle Wege führen nach Rom

Zur Hauptstadt wurde Rom übrigens erst 1871 im Zuge des Risorgimento ernannt. Zuvor fiel diese Aufgabe Turin und ab 1865 Florenz zu. Bis zur Stadtgrenze muss ich in einem Rutsch durchlaufen. Nach den hinter mir liegenden 50 Kilometern würde ich ansonsten wohl nicht mehr aufstehen. Anderthalb Stunden folge ich dem wie mit dem Lineal gezogenen Weg. Kurz vor Ladenschluss erreiche ich La Cinquina, einen Vorort Roms, eingespannt zwischen dem Naturareal und der Hauptstadt. Hier entsorge ich allen Proviant, auch das restliche Wasser und zwei Paar durchgescheuerte Socken in einem Papierkorb. Dann schultere ich ein letztes Mal den Rucksack und nehme die restliche Wegstrecke in Angriff.

Im einsetzenden Mondschein unterquere ich den Circonvallazione, Roms Ringstraße, und folge der Via della Bufalotta. Mehrere Kilometer weiche ich ihr nicht von der Seite. Langsam verstehe ich, warum man von der „Ewigen Stadt“ spricht. Schon im ersten Jahrhundert vor Christus hat der Dichter Tibull Rom so genannt. Bereits damals war es als Zentrum des Römischen Reiches eine Millionenmetropole. Es gab ein Frisch- und Abwassersystem, ein ausgebautes Straßennetz und die Vigiles, eine Art Feuerwehr mit Polizeibefugnissen zum Schutz der Bürger. In seiner „Aeneis“ lässt Vergil Gott Jupiter prophezeien, dass der Stadt Rom keine räumlichen oder zeitlichen Grenzen gesetzt seien.

Mit jeder Seitenstraße, die ich überquere, füllt sich die Bufalotta mit mehr Autos. Gegen 20 Uhr bin ich umgeben von drängelnden Mopeds, qualmenden Stadtbussen und telefonierenden Fußgängern. Kaum zu glauben, dass diese frühe Millionenstadt im Mittelalter gerade mal 20000 Einwohner zählte! Ich überquere die vierspurige Viale Jonio und erreiche im Gefolge der aufgebrezelten Stadtjugend das Viertel Monte Sacro. Auf einem Hügel dieser Art brachte Romulus der Sage nach am 21. April 753 vor Christus seinen Bruder Remus um, als dieser über die von Romulus erbaute Stadtmauer gesprungen war.

Ich hingegen bin mir jetzt ganz sicher, dass ich noch heute ins Stadtzentrum gelangen werde – und wenn es bis Mitternacht dauern sollte. Ich habe den Spruch Franz von Assisis im Ohr: „Ein Mensch mit gütigem, hoffendem Herzen fliegt, läuft und freut sich; er ist frei.“ Längst merke ich nichts mehr: keine Anstrengung, keinen Schmerz. Den Lärm der Autos habe ich ausgeblendet.

Nur: Wo genau ist die Stadtmitte? Die Auswahl an Straßen, Abzweigungen und Irrwegen nimmt zu. Nach einigem Hin und Her biege ich endlich wieder auf die Nomentana ein. Von hier an geht es nur noch geradeaus bis zur Porta Pia, dem berühmten Tor zur Innenstadt. In Rom anzukommen, nötigt mir Respekt ab. Die Stadt wächst mit jedem Schritt.

Mittlerweile falle ich als Pilger auf. Vermutlich bin ich in den Augen der coolen Römer ein verschwitzter Möchtegernguru. Nein, beteuere ich mir selbst, ich bin nur unterwegs, um Italien und seine Menschen kennenzulernen und am Ende ein bisschen über mich hinauszuwachsen – wie Franz von Assisi eben, auf dessen Spuren ich unterwegs bin.

Das große Finale

Um 21 Uhr, 15 Stunden nach meinem Aufbruch von Farfa, stehe ich vor der Porta Pia. Dann schlüpfe ich hinein in die italienische Hauptstadt und verschmelze mit dem Menschenstrom. Als ich auf den Stufen zur Lateranbasilika hochstaune, in der noch bis ins 19. Jahrhundert hinein die Päpste gekrönt wurden, habe ich Herzklopfen. Immer schon hatte es mir das große Ziel des Franziskuswegs angetan. Ich mag ihre opulente Kraft, ihre von Millionen Besuchern verliehene Energie.

Harte Aufstiege, Muskelkatergarantie, zur Belohnung unvergleichliche Stunden in unscheinbaren Dörfern und das große Finale in Rom – das ist der Franziskusweg. Thomas Bauer

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