Reise-Infos

Vom Glück, seinen Lebenstraum zu wagen

von Redaktion

Wie eine Mama und Künstlerin aus Potsdam mit ganz viel Abenteuerlust Grönland durchquert

Der erste Schnee in Bayern, die ersten Minusgrade – frühmorgens, wenn man mit Kind zur Schule eilt, sind gewöhnungsbedürftig, aber auch wunderschön, wie alles glitzert in der Morgensonne. Doch warum bitte will man Grönland durchqueren? Mit fast 50? Als Mama von zwei Kindern? „Ich war neugierig, wie sich diese Landschaft anfühlt“, sagt Geertje Marquardt, als ich sie per Videotelefonie erreiche. Und sie strahlt. Geertje lebt in Potsdam. „In Brandenburg hat es jetzt auch geschneit. Doch es wird nie richtig eisig kalt. Und es ist viel zu viel los hier. Ich wollte sie spüren, die Eiseskälte auf der Haut, die totale Stille rund um mich und eine endlose Weite, in die ich blicke“, gesteht sie.

Wer jetzt spontan losbibbert, dem sei erklärt, dass Kälte schon immer Geertjes Ding war. Sie ist Eis- und Schneeskulpturenkünstlerin und arbeitet jedes Jahr ein paar Wochen in einem schwedischen Icehotel nördlich des Polarkreises.

Kälte ist ihr Ding

„Eis und Schnee liebe ich seit meiner Jugend. Mit meiner Grundschulfreundin hatte ich in der damaligen Tschechoslowakei das Skifahren gelernt – auf den uralten Brettern ihres Vaters. Während eines Praktikums bei einem Architektur- und Designbüro in Stockholm dann habe ich jede freie Minute genutzt, um in die Kälte einzutauchen. Ich habe in den dunklen Monaten sogar Spikes auf meine Fahrradreifen gezogen, um der Natur möglichst nah zu sein. Meine Ferien verbrachte ich, wann immer möglich, auf Skiern, Schlitten, Snowboard. Das weiße Element um mich herum, es zog mich an, so wie später das Icehotel in Schweden. Seit 2012 gehöre ich zum Künstler-Team dieses magischen Ortes, das Jahr für Jahr mit Kettensägen und Eismeißeln ganze Schnee- und Eisblöcke bearbeitet, um ein Hotel aus Schnee und Eis zu errichten. In den Räumen können Winterliebhaber übernachten, und besonders Begeisterte sogar in einer Eiskirche heiraten – wie mein Mann und ich 2013 – gekrönt von einer unvergesslichen Hochzeitsnacht.“ Nix Malediven, Geertje hat eine andere Faszination. Da liegt Grönland als Lebenstraum in der Tat auf der Hand.

Ein lila Opel
war schuld

Mit dem Polarvirus habe sie sich dann vor zehn Jahren infiziert, erzählt Geertje. „Mit meinem Fahrrad war ich durch die idyllische Schiffbauergasse des Potsdamer Theaterquartiers gefahren. Am Straßenrand parkte ein violetter Opel Corsa, im Vorbeifahren sah ich den großen Aufkleber auf der Heckklappe: www.groenlanddurchquerung.de.

Wieder zu Hause, mit meinem schlafenden dreijährigen Sohn Johan auf dem Schoß und der mit Lego spielenden Matilda zu meinen Füßen, rief ich die Website auf. Ich las von den Projekten des Potsdamer Geodäten Wilfried Korth. Zusammen mit seinem Dresdner Kollegen Wieland Adler vermaß er seit 2002 die Schneehöhen des Inlandeises auf einer historischen, heute kaum noch begangenen Route. Von da an sah ich die Bilder der kleinen Truppe ständig vor mir. Wie sie mit einfacher Expeditionsausrüstung, Kuppelzelten, alten Skiern und geflickten Schuhen 45 Tage lang auf ihren Expeditionen gewaltige Gerätschaften und Schlitten im Namen der Wissenschaft über das Eis zogen.“ Grönland lässt Geertje da nicht mehr los. „Grönland, das war ein mir unendlich erscheinender Raum aus Schnee und Eis. Man schreitet hinein und weiß nicht, was einen erwartet – physische, mentale Herausforderungen, Wetterlagen, wilde Tiere, Gletscherspalten.“

Krafttraining im Wald

Grönland ist die größte Insel der Welt und nach der Antarktis die zweitgrößte permanent vereiste Fläche. Gerade mal 60000 Bewohner leben auf den 1,7 Millionen Quadratkilometern Eisfläche. Einmal ganz weit oben auf dem Globus stehen: Das Grönlandeis aus eigener Kraft zu durchqueren, ist wie den Mount Everest besteigen – nur viel weniger überlaufen. Gerade mal 100 Menschen meistern die Tour im Jahr. Die meisten von ihnen Polarforscher, die wissen was sie tun.

„Wer Grönland durchquert, kommt als ein anderer zurück“, sagen die, die es gemacht haben. Geertje merkt, dass genau das ihr Lebenstraum ist. Nach einem Gesuch auf Facebook kontaktiert sie Mads, den späteren Expeditionsleiter. Als nach mehreren Mails und Treffen das Okay kommt, bereitet sie sich auf diesen Trip vor. Sie weiß, das wird kein Outdoor-Urlaub, sondern eine kräfte- und nervenzerrende Expedition.

Sie trainiert in Eisbecken, zieht LKW-Reifen an Seilen durch den Potsdamer Wald, meditiert und packt kleine Motivationszettel ihrer Tochter ein. „Sie hat mir für jeden Tag eine Botschaft aufgeschrieben. Auf einem etwa stand ‚Mama, du bist eine starke Frau und ein Vorbild‘. Das waren meine kleinen Notanker in eisiger Kälte.“

Jedes Kilo zählt

Was sonst packt man ein, wenn man sich aufmacht, zur 560 Kilometer langen Überquerung des grönländischen Inlandeises auf Skiern? „Wir brauchten eine Genehmigung der grönländischen Regierung, und jeder von uns 9000 Euro auf einem Konto – für den Fall, dass ein Hubschrauber mich ausfliegen muss. Und dann wusste ich von meinem Expeditionsleiter, dass ich so wenig wie möglich packen durfte. Bei der eisigen Kälte würde ich jedes Kilo spüren, das ich hinter mir herziehen werde.“ 80 Kilogramm wiegen ihre Schlitten insgesamt. In den Taschen stecken „Unmengen von Essen – denn dieser Marsch zehrt so an dir, dass du weit über 4000 Kilokalorien jeden Tag in dich hineinstopfst und am Ende doch an Gewicht verloren haben wirst – dann ein Kocher, Schneeschaufel, Schlafsack, Zelt, Isomatte und Klamotten. Auf den ersten Kilometern habe ich jedes einzelne Teil verflucht, das ich eingepackt hatte.“

Mads vom Bodensee und Aenne aus der Schweiz bilden ihr Team. Warum die anderen beiden mitmachen, haben sie in einem ihrer Videotreffen erzählt. Das sei der Höhepunkt von allem, was sie bisher erlebt habe, sagt Aenne. Für ihn sei es das nächste Level, hat Mads erzählt. Wie seid ihr miteinander ausgekommen? „Das war neben dem Gewicht meine größte Herausforderung auf dieser Expedition. Beide waren viel fitter als ich, und erfahrener. Ich dagegen bin nicht einmal besonders sportlich. Trotzdem schien sie meine Begeisterung für diesen Trip überzeugt zu haben. Doch dann habe ich mich schon auch mal gefragt, ob sie es bereuten, mich mitgenommen zu haben. Sie sind hinaus in die Eiseskälte losgestapft, gegen den Wind, als ob das ein gemütlicher Spaziergang wäre, ich dagegen bin immer mehr zurückgefallen.“

Als sie
Todesangst hatte

Geertje kommt an ihre körperlichen Grenzen – und an ihre psychischen. „Als eines Tages dann noch ein Sturm einsetzte und ich meine beiden Begleiter weit vor mir fast nicht mehr sehen konnte, hatte ich das erste Mal Todesangst. Was, wenn ich sie aus den Augen verliere? Was, wenn ich die Orientierung verliere, mich verirre und sie zu spät zurückblicken, nicht bemerken, dass ich weg bin. Was, wenn ich verschwinde, irgendwo in der unendlichen Weite?“ In diesem Moment macht Geertje Gebrauch von ihrem Notfallinstrument: einer Trillerpfeife. „Ich habe ganz laut in meine Trillerpfeife geblasen, unser vereinbartes Alarmsignal. Doch sie haben mich nicht gehört. Der Sturm war zu laut, ich konnte nicht erkennen, ob sie sich nach mir umdrehten. Ich habe mich so einsam gefühlt, so schrecklich verlassen.“

Der kleine Polarzeisig

Panik zurückgelassen zu werden, abgehängt zu werden, das war ­Geertjes schlimmster Moment. Wurden die drei im Laufe der Expedition als Team besser? „Auf jeden Fall gab es auch Momente, in denen wir uns ganz nah waren, etwa in Glücksmomenten, als wir am Ziel ankamen oder plötzlich ein kleiner Vogel bei uns auftauchte. Das war mit einer der schönsten Augenblicke. Ein Polarbirkenzeisig. Der Wind hatte ihn hergetragen. Er inspizierte die bunte Ausrüstung, bevor er wieder im Weiß verschwand. Für mich war der kleine Besuch ein winziges Lebenszeichen mitten im unendlichen Eis. Es war wunderschön.“

Ist Geertje sonst noch einem anderen Tier begegnet? Einem Eisbären? „Die hatte ich anfangs immer im Hinterkopf. Wenn der Wind an unserem Zelt gezerrt hat, sich die Gestängebögen tiefbeugten, hatte ich die Fantasie, dass ein Eisbär mit der Pranke gegen die Wand schlägt. Da dachte ich, ich drehe durch. Doch ich wusste auch: Eine dünne Schnur war als Eisbärenzaun um unser Zelt gespannt und würde Alarm schlagen, wenn ein großes Tier sie einreißt. Und dann würde sich einer von uns das Gewehr schnappen, hinausrennen und einen Warnschuss über den Kopf des Eisbären abgeben.“

Ob sie in die Situation mal kam, will sie nicht verraten. Das wäre Spoileralarm. Immerhin hat sie ja ein richtig cooles Buch über diese einzigartige Reise geschrieben. „Die Eisbrecherin“ heißt es. Und man startet auf Seite 1 und legt es nicht mehr weg, bis man wieder im sicheren Hafen am anderen Ende von Grönland angekommen ist. Nach 34 Tagen in Kangerlussuaq.

Dann ist man irgendwie froh, wenn man im Warmen sitzt, eingemummelt in eine Decke auf dem heimischen Sofa. Und Geertje? Klar, sie muss wieder raus in die Kälte, in ihr liebestes Element, sie will weitersägen am Icehotel.

Mehr Klarheit
im Leben

Ob sie diese Reise eigentlich grundlegend verändert hat? „Als ich zurückkam, war ich um zehn Jahre gealtert, mein Arm war taub, meine Lippen aufgesprungen. Doch diese körperlichen Malaisen heilten nach einigen Monaten. Was länger blieb, war die seelische Veränderung. Diese Reise hat mich auf jeden Fall klarer gemacht. Ich kann Wichtiges von Unwichtigem besser unterscheiden. Und ich kenne mich selbst jetzt viel besser, weiß, wo meine Grenzen liegen, wie viel ich schaffen kann. Ja, ich bin sicher auch stärker und mutiger geworden.“ Sie schwärmt so von ihrer Reise, weil sie Frauen und Mädchen inspirieren möchte, ihre Träume zu verwirklichen: „Ich möchte ihnen zeigen, wie schön es ist, nicht in vorgegebenen Spuren zu laufen, sondern seine eigenen zu ziehen. Seid mutig und lebt Euren Lebenstraum!“ Julitta Ammerschläger

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