Die Ruhe vor dem Sturm

von Redaktion

Vor 170 Jahren, im Januar 1855, erschienen die ersten Ausgaben des „Rosenheimer Wochenblatts“. Zunächst erfüllte es den Zweck eines Amtsblatts, erst ab den 1870er-Jahren entwickelte sich aus dem Wochenblatt eine unabhängige Tageszeitung. Und doch verbergen sich hinter den vermeintlich „trockenen“ Bekanntmachungen in sachlicher Amtssprache spannende Geschichten aus einer Zeit, die unserer gar nicht so unähnlich ist.

An der Schwelle zu
einem neuen Zeitalter

Das Königreich Bayern befand sich Mitte des 19. Jahrhunderts an der Schwelle zu einem neuen Zeitalter. Niemand wusste, wie die Welt in zehn Jahren sein würde, nur, dass sich wahrscheinlich alles ändert. In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf Wirtschaft und Gesellschaft in Rosenheim und Bayern um das Jahr 1850 und tauchen ein in eine Zeit, die Menschen später wohl als die „gute alte Zeit“ bezeichnen sollten.

Rosenheim im Jahr 1855, Viktualienmarkt. Jeden Donnerstag und Sonntag bieten die Händler auf dem Platz neben dem prächtigen Mittertor ihre Waren feil. An diesem Sonntag liegen Obst, Gemüse, Milchprodukte, Brot und Fleisch auf Tüchern und Kisten und werden lauthals zum Verkauf angeboten. Die Sonne scheint auf die herrschaftlichen Häuser der Altstadt mit ihren hohen Stirnmauern. Karren fahren über das Kopfsteinpflaster, Frauen tauschen sich über Neuigkeiten aus, Kinder spielen zwischen den Wagen.

Als die Kirchturmglocke schlägt, packen die Händler ihre Waren zusammen, und die Bewohner Rosenheims ziehen zur Nikolauskirche, um den Gottesdienst zu besuchen. Die katholische Kirche, regelmäßige Märkte und das geschäftige Treiben von Kleinunternehmern und Besuchern des beliebten Bades bestimmen das Leben in der mittelalterlichen Stadt Rosenheim. Doch so idyllisch das Städtchen im Alpenvorland auch scheinen mag, wie überall im Königreich und anderen Ländern herrscht auch hier die strenge Hand des Staates.

Selbst das lebhafte Marktgeschehen wird durch eine strikte Marktordnung geregelt. Mitglieder des Magistrats prüfen bei Kontrollgängen unter anderem, ob die Brote eine bestimmte Größe und Qualität einhalten. Bei Abweichungen wird der Bäcker mit einem Jahr Verkaufsverbot bestraft.

Staatlich regulierte
Preise

Auch die Preise sind staatlich reguliert. Waren, die nach Gewicht verkauft werden, müssen gegen Gebühr auf der öffentlichen Marktwaage gewogen werden. Die Preise für Grundnahrungsmittel werden regelmäßig festgesetzt, wie aus einer Bekanntmachung im „Rosenheimer Wochenblatt“ vom 7. Januar 1855 hervorgeht:

„An den Magistrat Rosenheim und sämtliche Gemeindevorsteher: (…) Durch Reggs.-Ausschreibung vom 28. Dez. 1854 (Kreis-Amtsbl. Nr. 71 S. 1900), ist der Satz für ein Pfund Mastochsenfleisch für den Monat Januar 1855 und bis auf weitere Bestimmung: 1) In der Haupt- und Residenzstadt München zu 13 Kreuzer, 2). In den übrigen Distrikten zu 15 Kreuzer 4 Pfennige beibehalten, was hiermit bekannt gemacht wird.“

Die Festsetzung der Preise soll Wucher und Spekulation verhindern und sozialen Unruhen entgegenwirken. Schätzungsweise zwei Drittel des Einkommens geben die Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts für Nahrungsmittel aus (heute sind es gut ein Achtel).

Wegen dieser großen Abhängigkeit von Lebensmitteln ist die Bevölkerung anfällig für Ernährungskrisen – und eine solche hatte auch zum Ausbruch der Märzrevolutionen von 1848 beigetragen.

Mitte der 1850er-Jahre ist die Zeit der „Restauration“. Doch alle Bemühungen in den deutschen Königreichen, die Uhren politisch auf den Vormärz zurückzudrehen, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf die Menschen ein großer, alles verändernder, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel zurollt. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Erste Eisenbahnfahrt

7. Dezember 1835, Nürnberg. Ein dampfendes Monstrum, bejubelt von einer begeisterten Menschenmasse, setzt sich in Bewegung. Der „Adler“, eine von den britischen Eisenbahnpionieren George und Robert Stephenson gebaute Dampflokomotive, ist der erste für den öffentlichen Personen- und Güterverkehr gebaute Zug in Deutschland. Auf ihrer ersten Fahrt von Nürnberg nach Fürth hat sie 200 Passagiere an Bord. Ihre Strecke ist nur 7,45 Kilometer lang, die Höchstgeschwindigkeit liegt beladen gerade einmal bei 28 km/h. Und doch verändert diese Fahrt alles.

Es ist der Beginn des Eisenbahnzeitalters in Deutschland, der Beginn einer neuen Mobilität. Städte und Länder sind auf einmal schneller erreichbar, die Welt wird kleiner und der Horizont der Menschen größer. Maßeinheiten und Zeitzonen werden vereinheitlicht und große Städte mit moderner Infrastruktur und einer großen Arbeiterklasse entstehen.

Der als fortschrittlich geltende König Maximilian II. fördert den Ausbau der Eisenbahn. Die wichtigsten Nord-Süd- und Ost-West-Achsen der Eisenbahn durch Bayern werden unter ihm fertiggestellt.

Doch während sich einige Regionen, wie Augsburg mit seiner Baumwollspinnerei, bereits zu Industriezentren entwickeln, bleibt die Region um Rosenheim zunächst agrarisch geprägt. Der Markt bezieht seine Einnahmen aus seiner Rolle als traditioneller Umschlagplatz für Waren – vieles ist hier noch wie vor 600 Jahren.

Rosenheim, Mitte des 19. Jahrhunderts, Hafen an dem Inn. Ein hölzerner Schiffszug nähert sich dem Hafen neben dem Zollhaus. Es ist mit Getreide aus Ungarn beladen, das nach Tirol transportiert werden soll. Da die geringen Anbauflächen in den Alpenregionen nicht ausreichen, sind sie auf die Importe angewiesen. Rosenheim ist ein Knotenpunkt für den Weitertransport. Viele der großen Schiffe beenden hier ihre Fahrt, die Waren werden dann über die Handelsstraßen zu Land weitertransportiert.

Rosenheim besitzt
Handelsprivileg

Als das Schiff anlegt, beginnt ein reges Treiben. Das Getreide wird ausgeladen und mit speziellen, vereidigten Messinstrumenten vermessen. Bereits seit 1478 hat der Markt Rosenheim die „Anschütt“ – ein Handelsprivilegium, das das exklusive Recht verleiht, ankommende Waren wie Getreide zu entladen, zu vermessen und direkt zu verkaufen.

Stromaufwärts werden die Schiffe zu dieser Zeit noch mit Hilfe von Pferden gezogen, obwohl schon erste Dampfschiffe auf den Flüssen in Bayern unterwegs sind. Die sogenannten „Wasserrosse“ waren besonders widerstandsfähig. Es gibt sogar die Theorie, dass Rosenheim seinen Namen von genau diesen eindrucksvollen „Rossen“ hatte.

Bereits 1328 wurde Rosenheim das Marktrecht verliehen. Die Stadt profitierte außerdem vom Handel mit Salz: Eine 1810 errichtete Saline war ein wichtiger Wirtschaftszweig, der Arbeitsplätze und Wohlstand brachte. Der Handel mit dem „weißen Gold“ unterliegt ebenfalls strengen Kontrollen.

1855 ist ein gewisser Salinen-Inspektor Doblinger vom Königlichen Hauptsalzamt für die Verwaltung zuständig. In einer Bekanntmachung im Wochenblatt vom 21. Januar 1855 gibt er die Versteigerung von Salinen-Holz bekannt:

„Die Beischossung des in den Nußdorfer-Waldungen für die Saline gehauenen Bau- und Nutzholzes, bestehend in 23 Stücken größeren, 64 Stücken mittleren, 58 Stücken kleineren Bau[m]stämmen und in 155 Sägprügeln, wird am Mittwoch den 24. Jänner 1855 im Wirtshause zu Nußdorf, morgens 10 Uhr, an den Wenigstnehmenden öffentlich versteigert, wozu die Fuhrwerksbesitzer und Schiffmeister hiermit eingeladen werden.“

Rosenheim ist ein traditionsreicher und zugleich aufstrebender Handelsort und Umschlagplatz für Waren. Mitte des 19. Jahrhunderts leben hier etwa 3100 Menschen. Doch aufgrund der Industrialisierung werden die mittelalterlichen Grenzen bald zu eng.

24. August 1854, Rosenheim. Mit großem Dröhnen fällt das Obere Tor, auch Münchner Tor genannt, in sich zusammen. Es war eines von einst vier Stadttoren, die aus der Altstadt führten. An diesem Sommertag muss es dem Fortschritt weichen, denn es steht der geplanten Eisenbahnlinie im Weg.

Bereits seit 1851 ist es beschlossene Sache, dass die geplante Bahntrasse von München nach Salzburg über Rosenheim führen wird. Die Erwartungen, die mit diesem neuen Transportmittel verbunden sind, sind riesig. Die Folgen für den Marktflecken sind jedoch noch größer: Innerhalb von zehn Jahren nach Fertigstellung steigt die Bevölkerungszahl um mehr als 50 Prozent. Der Markt Rosenheim wird 1864 zur Stadt erhoben und die Industrialisierung nimmt an Fahrt auf. Neue Unternehmen siedeln sich an, viele von ihnen mit eigenen Gleisanschlüssen zum Bahnhof, andere im unteren Mangfalltal und Rosenheim wächst zu einem der wichtigsten Wirtschaftszentren in Bayern.

Neuer Bahnhof bald
wieder zu klein

Mit der wachsenden Urbanisierung verändert sich auch das Stadtbild. Weitere Tore müssen dem zunehmenden Verkehr weichen, und der neu erstellte Bahnhof wird wenige Jahre später bereits wieder zu klein und wird 1876 verlegt.

In das Gebäude zieht nun die Stadtverwaltung, an den stillgelegten Gleisanlagen Richtung München entsteht eine Baumallee und die Prinzregentenstraße.

Nur das Mittertor, an dem bis heute noch Märkte wie der Christkindlmarkt stattfinden, erinnert bis heute noch an „die alten Zeiten“ in Rosenheim – an die Ruhe vor dem Sturm der Industrialisierung.

Lesen Sie nächste Woche, 27. Januar, die dritte Ausgabe des Rosenheimer Volksblatts.

Natalie Frank

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