Am Sporn des italienischen Stiefels befindet sich der Nationalpark Gargano. Er ist das grüne Herz Apuliens und lockt mit einem Landschafts-Mix aus Bergen, Wäldern und einer 150 Kilometer langen Küstenlinie, an der sich steile Klippen und einzigartige Strände abwechseln. Die Küstengemeinde Mattinata ist weniger bekannt als die Gargano-Städte Vieste oder Peschici. Dabei hält der zwischen zwei Hügelketten gelegene Ort erstaunlich viele Schätze bereit.
Zu Fuß viel entdecken
Der aussichtsreiche Wanderweg führt an krummen Kiefern, Oliven- und Mandelbäumen vorbei, verläuft sanft bergab. Es duftet nach Rosmarin und Harz. Plötzlich öffnet sich der Blick: Da unten! – die Faraglioni der Baia delle Zagare! Majestätisch ragen die beiden markanten Felsformationen, die aussehen wie überdimensionale Backenzähne, aus dem azurblauen Meer. Sie sind das Wahrzeichen von Mattinata. Wir folgen dem Sentiero Natura weiter und erreichen den Strand von Vignanotica. Er ist eingerahmt von weißen Felsklippen. Mitte April liegen an diesem zauberhaften Ort bereits ein paar Menschen in der Sonne.
„Bis 1945 war Mattinata – abgesehen vom Seeweg – nur über Eselpfade mit seinen Nachbargemeinden Vieste und Foggia verbunden“, erklärt Guide Paolo Valente. „Erst in den 1980er-Jahren verbesserte sich die Situation durch den Ausbau der Bundesstraße und den Tunnelbau.“ Heute kann im geografischen Sinn zwar keine Rede mehr von Abgeschiedenheit sein, dennoch bleibt Mattinata ein Geheimtipp für Apulien-Reisende. Nur etwa 200000 Besucher pro Jahr zählt die Gemeinde bei rund 6000 Einwohnern.
60 Orchideenarten
Einen ersten Höhepunkt feiert die Stadt im Frühjahr mit den sogenannten Orchidays, einem Fest zu Ehren der Orchideenblüte. Zwischen Mitte März und Ende April blühen in Mattinata zahlreiche wild wachsende Orchideen. Rund 80 Sorten gibt es in Süditalien, etwa 60 davon blühen in Mattinata – eine außergewöhnliche Dichte, die Botaniker begeistert. Die zarten Blumen, die am Fuße der Hügelketten aus der Erde sprießen, haben Mattinata den klingenden Beinamen „Stadt der Orchideen“ eingebracht. Doch wer eine langstielige, üppige Blütenpracht erwartet, wird überrascht: Die kostbaren Pflanzen sind klein. Wer sie aufspühren will, muss den Blick aufmerksam auf den Boden richten.
Angela Rossini ist eine ausgewiesene Orchideen-Expertin und bietet während der „Orchidays“ geführte Wanderungen an – allerdings nur auf Italienisch. Die ehemalige Lehrerin kam der Liebe wegen nach Mattinata. „Ich habe einen aus Gargano geheiratet“, sagt sie lächelnd. Rossini verfasste einen Orchideenführer über die heimischen Pflanzen und entdeckte auf ihren Streifzügen eine neue Orchideenart. Als es darum ging, der Pflanze einen Namen zu geben, benannte sie die Blume nicht etwa nach sich selbst – wie es unter Forschern üblich ist –, sondern widmete sie ihrer Wahlheimat: Ophrys mattinatae.
Tour zur Klosterruine
Das gut ausgebaute Wandernetz rund um Mattinata ermöglicht ganzjährig schöne Wanderungen. Im Frühjahr ist die beste Zeit. Bekannt und beliebt: Die Tour zum 876 Meter hohen Monte Sacro. Die Tour ist relativ kurz und führt ohne große technische Anforderungen in etwa 45 Minuten zum Ziel.
Entlang von uralten Trockenmauern gewinnen wir rasch an Höhe und schlendern durch Steineichenwälder, bis wir einen faszinierenden Ort erreichen: die Ruinen eines alten Klosters. Die Benediktiner-Abtei Abbazia di Monte Sacro aus dem Jahr 1138 war einst eine bedeutende Pilgerstätte. Um 1440 wurde das Kloster verlassen, verschwand über die Jahre unter der üppigen Vegetation Garganos. Dank eines Forschungsauftrags des Nationalmuseums in Nürnberg wurde die gesamte Anlage in den 1990er-Jahren freigelegt. Was überrascht: Es gibt keine Absperrungen – Besucher können sich innerhalb der Ruine frei bewegen und das historische Erbe hautnah erleben.
Gräber der Daunier
Am westlichen Stadtrand führt ein aussichtsreicher Weg in ein paar Serpentinen hoch zum zweiten Hausberg Mattinatas, dem Monte Saraceno. Ganz oben erwartet einen eine faszinierende prähistorische Nekropole. Ein wenig schaurig: Über 500 in den Fels gehauene Gräber verteilen sich über den ausladenden Gipfelbereich. Die ungewöhnliche letzte Ruhestätte ist Zeuge der Daunier, einer vergleichsweise hoch entwickelten Zivilisation aus Südosteuropa, die zwischen dem 11. und 10. Jahrhundert vor Christus im Gargano lebte. Bei den Bestattungen wurden seinerzeit zahlreiche Gegenstände wie Skulpturen, Schilder und Stelen beigelegt, die seit 2022 im Archäologischen Nationalmuseum von Mattinata ausgestellt sind.
Abends dann lassen wir uns im Städtchen nieder. Die engen Gassen und weiß getünchten Häuser verleihen Mattinata den typischen Charme eines apulischen Küstendorfs. Erstaunlich viele Menschen sprechen hier Deutsch. Warum? Ab den 1960er-Jahren folgten viele männliche Bewohner Mattinatas dem Ruf, als „Gastarbeiter“ in Deutschland Geld zu verdienen. Giuseppe „Pepino“ Argentieri ist einer von ihnen. Der 90-jährige Rentner hat mehr als 20 Jahre in Stuttgart gearbeitet, den Ruhestand verbringt er natürlich in seiner Heimat, wo er gerne mal mit Touristen aus Deutschland plauscht: „Ich muss von Zeit zu Zeit ja meine Deutschkenntnisse auffrischen …“ Johanna Stöckl