Für mich beginnt es immer mit einer Nachtzugfahrt.
Bei der ersten Reise ist es April 2023, kurz nach Ostern, meine dritte oder vierte Reise in die Ukraine seit Beginn des großen Krieges. Ich habe schon viele Landesgrenzen überquert, aber diesmal ist etwas anders: Kurz hinter Przemysl im östlichsten Osten Polens trage ich zum ersten Mal in meinem Leben nur Unterhose und T-Shirt bei der Passkontrolle. Eine Soldatin in Tarnuniform klopft an die Tür des Viererabteils, als ich schon auf meiner blau-weiß bezogenen Pritsche liege. Die Frau trägt ein altertümlich aussehendes Maschinengewehr über der Schulter und eine Bodycam unter dem Kinn. Die blauen Einheimischen-Reisepässe der anderen Passagiere nimmt sie wortlos entgegen. Mich fragt sie: „From Germany? Why to Ukraine?“
„Ich bin auf der Suche nach Realität, Fiktion haben wir schon genug“, könnte ich antworten. Aber das würde komisch klingen und wäre nur ein Teil der Wahrheit. Außerdem lautet die wichtigste Regel bei Grenzübergängen: Verwirre niemals die Wachleute. Also sage ich: „Moja diwtschyna schywe w Kyjewi – meine Freundin lebt in Kyjiw.“ Das ist einer von zwei Sätzen auf Ukrainisch, die ich unfallfrei hinbekomme. Der andere lautet: „Meine Tante mag keine Mayonnaise.“ Danke, Duolingo.
Die Beamtin verschwindet mit den geöffneten Pässen in der Hand, und ich ziehe mir was an. „Aus Deutschland?“, fragt der Mann auf der Pritsche gegenüber. „Hast du uns Leoparden mitgebracht?“ „Klar, und Taurus. Zwei Stück liegen unter deinem Sitz“, antworte ich. Das sind nun also die Small-Talk-Themen, die auf die Frage nach der Herkunft folgen.
Unser Abteil wirkt eher funktional als schön mit zwei harten Liegen pro Seite, einer quietschenden Metallschiebetür und einem Fenster, das mit durchsichtiger Folie beklebt ist. Wegen der Raketenangriffe, so entstehen bei einer Detonation weniger Splitter. Zwei Stunden dauert der Zwischenstopp an der unbeleuchteten Haltestelle Mostyska II, ohne dass jemand aussteigen darf.
Man will schon genau wissen, wer da aus Polen über die Grenze kommt. Zwei Stunden Halt, in öffentlichen Fahrplänen stehen die Zeiten. Bei meiner ersten Kriegsfahrt hatte ich große Angst vor einem Angriff auf den Zug. Aber wenn du häufig fährst und nie etwas passiert, wird die Angst weniger. Die beste und schlimmste Eigenschaft des Menschen ist, dass er sich gewöhnt.
Knapp vier Stunden braucht der Zug für die ersten 97 Kilometer. Dunkle Ebenen, ein paar Bäume, kaum Straßenbeleuchtung. Schwere Trucks rollen parallel zur Schiene. Gleichmäßig rattern die Zugräder, zwei metallische Schläge, dann eine kurze Pause, dann wieder zwei Schläge. Ein Herzschlag. Das passt, denn wir befinden uns auf der Aorta der Ukraine, der wichtigsten Bahnstrecke der Welt. Von Przemysl in Polen nach Kyjiw in der Ukraine.
Millionen Menschen gelangten über diese Gleise ins sichere Ausland, Dutzende Staatsgäste fuhren auf ihnen nach Kyjiw. Ob Macron, Biden, Scholz oder von der Leyen – alle ratterten auf diesen 663 Kilometern ihrem Ziel entgegen. Also warum gerade jetzt in die Ukraine?
„Aus zwei Gründen. Erstens wohnt Julija in Kyjiw, wir sind seit gut einem Jahr zusammen.“ „Da habt ihr euch ja einen tollen Zeitpunkt ausgesucht. Historisch“, spottet mein Mitreisender. „Was ist der zweite Grund für deine Reise?“
„Ich möchte durch die Ukraine reisen und couchsurfen.“ „Du möchtest was?“ „Menschen zu Hause besuchen. Mithilfe von couchsurfing.com. Einem Reisenetzwerk, auf dem die Leute kostenlose Unterkünfte anbieten. Und dann darüber ein Buch schreiben.“ „Funktioniert das? Während des Krieges?“ „Das frage ich mich auch. Aber eine Zusage habe ich schon.“
Couchsurfing in einem Kriegsland, das klingt natürlich grundfalsch. Als hätten die leidgeprüften Menschen keine anderen Probleme, als einen ungekämmten Backpacker aus dem privilegierten Deutschland bei sich aufzunehmen, aus dem friedlichen, prosperierenden, sicheren, demokratischen, superreichen Deutschland. Ist das in Ordnung, oder ist das pietätlos, unsensibel, eine Zumutung?Vor der Abreise war ich unschlüssig, also fragte ich ein paar ukrainische Couchsurfing-Mitglieder, was sie davon hielten. Einer schrieb zurück: „Die Deutschen haben eine Million Ukrainer aufgenommen, da können wir doch auch mal einen Deutschen aufnehmen.“ Und freiwillig sei das ja obendrein, ich würde ja niemanden zwingen, mich einzuladen.
Forsetung >>>
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Also gut, ich mache das. Ich werde versuchen, ein guter Gast zu sein, und mit den Einheimischen einen Deal machen: Ihr nehmt mich auf – und dafür erzähle ich eure Geschichte.
„Couchsurfing in der Ukraine“ ist ein spannendes Buch von einer noch spannenderen Reise. Stephan Orth hat Zeit für uns. Ein Interview:
Wie viel Mut hat es Sie gekostet, diese Reise zu tun?
„Es waren viele einzelne Reisen, insgesamt habe ich mehr als acht Monate in dem Land verbracht. Jedes Mal, wenn ich über die Grenze fahre, habe ich wieder dieses flaue Gefühl im Magen. Aber wenn ich dort unterwegs bin, kann ich nicht 24 Stunden am Tag Angst haben – das hängt dann eher stark von der Situation ab. Die Recherchen in der Nähe der Front waren heikel, das muss ich nicht noch einmal haben.“
Wie bereitet man sich auf eine Fahrt ins Kriegsgebiet vor?
Unter anderem habe ich einen fünftägigen Kurs für Journalisten in Krisengebieten gemacht, den die Kaserne in Hammelburg anbietet. Dort trainieren die Teilnehmer in Rollenspielen, mit Kriegssituationen umzugehen und unter Stress die richtigen Entscheidungen zu treffen. Noch wertvoller sind eigene Erfahrungen aus Krisenregionen. Ich hatte schon vorher in Gegenden mit problematischer Sicherheitslage recherchiert, etwa in Tschetschenien, Bergkarabach oder der Xinjiang-Provinz.
Welche Begegnung hat Sie am meisten beeindruckt?
Das waren viele, ich habe ein ganzes Buch gefüllt mit solchen Begegnungen. Sehr eindrucksvoll fand ich Polina aus Saporischschja. Sie hat jahrelang als Menschenrechtsanwältin gearbeitet und Beweise gesichert für russische Kriegsverbrechen in der Ostukraine seit 2014. Im Februar 2022 entschied sie, zusammen mit Freunden und Verwandten eine private Hilfsorganisation zu gründen, um Medikamente und Lebensmittel von A nach B zu bringen. Heute hilft sie unter täglicher Lebensgefahr bei Evakuierungen von Schwerverletzten aus den Frontgebieten. Es ist unfassbar, was sie erlebt und leistet.
Wie viel Leid haben Sie vor Ort gesehen?
Fast jeder Ukrainer, jede Ukrainerin, die ich traf, hat Freunde oder Verwandte verloren durch den Krieg. Das Ausmaß der Zerstörung in den Orten im Osten des Landes lässt sich kaum in Worte fassen. Und zusätzlich sind da viele unsichtbare, innere Wunden – die Menschen befinden sich seit mehr als drei Jahren in einer konstanten Stresssituation, kämpfen mit traumatischen Belastungen.
Was haben Sie von den Menschen, denen Sie auf der Reise begegnet sind, gelernt?
Ich habe den allergrößten Respekt für die Durchhaltefähigkeit und den Lebenswillen der Ukrainerinnen und Ukrainer bekommen. Das verlangt übermenschliche Kräfte. Im Vergleich dazu hatte ich es leicht: Ich kann jederzeit das Land verlassen und mich in Sicherheit begeben. Viele Ukrainer können das nicht.
Wie sehr hat die Zeit in der Ukraine Sie verändert?
Die Reisen haben mich extrem aufgewühlt. Die Einschläge der Raketen zu hören, die Verbrechen Russlands aus der Nähe mitzubekommen, das prägt. Leider sind in Deutschland viele Menschen heute abgestumpft und würden am liebsten nichts mehr von dem Thema hören. Aber der Krieg geht weiter, jeden Tag geschehen weitere Gräueltaten.
Gab es auch „schöne“ Orte, durch die Sie gefahren sind?
Nun, die Idee meiner Recherchereisen war nicht, die Schönheiten der Ukraine zu erkunden. Dennoch konnte ich natürlich merken, was für ein fantastisches Land das in Friedenszeiten auch für Touristen sein kann. Die Berglandschaften der Karpaten sind wunderschön, Städte wie Odessa, Lwiw oder Kyjiw sind absolut besuchenswert – sobald die Sicherheitslage wieder besser ist.
Sie waren zuletzt im April diesen Jahres in Kyjiw – wie haben Sie die Stadt jetzt ganz aktuell erlebt?
Ich war wieder an der Mauer der St.-Michaels-Kathedrale, wo Porträts der Kriegstoten hängen. Bei meinen vorherigen Besuchen war dort rechts immer noch ein Teil der Fläche frei, nun ist jeder Quadratzentimeter mit Fotos bedeckt. Doch trotz aller Schrecken des Krieges, trotz aller Erschöpfung geht das Leben in der Hauptstadt weiter, und die Menschen sind weiterhin fest entschlossen, nicht aufzugeben.
Ich höre manchmal Leute in Deutschland behaupten, die Ukraine habe diesen Krieg im Grunde schon verloren. Aber wenn man den Alltag in einer funktionierenden Stadt wie Kyjiw erlebt, bekommt man einen anderen Eindruck. Es hängt allein von der weiteren Unterstützung des Westens ab, ob auch in ein paar Monaten noch die Front gehalten werden kann. Jeder Einzelne kann helfen mit Spenden. Es geht auch ohne die Unterstützung der USA, und es geht um alles, auch für uns: Wenn Putin nicht besiegt wird, sondern die Erfahrung macht, dass Angriffskriege sich lohnen, werden weitere Angriffskriege folgen. Interview: Julitta Ammerschläger