Pünktlich um 10.30 Uhr trifft sich Raphael mit seinen Assistenten, um die heutige Tour durch Vila Madalena zu besprechen, einem Stadtteil von São Paulo, der für seine Künstlerszene, eleganten Restaurants und bunten Graffitis bekannt ist. Man könnte von einer Galerie unter freiem Himmel sprechen, angesichts der Konzentration hochkarätiger Kunst in diesen engen Straßen. Raphael wird nun zwei Stunden lang Besucher aus aller Welt durch dieses Viertel führen und ihnen die faszinierende Welt der Street Art näherbringen.
Der erste Stopp ist der „Beco de Aprendiz“, eine wenig bekannte Location mit bunten Graffitis von mehr als 50 Künstlern. Raphael erklärt hier den Unterschied zwischen den Graffitis und den runenartigen Schriftzeichen der Pixadores, die in brasilianischen Großstädten das Straßenbild prägen und im Gegensatz zu Graffitis verboten sind. „Diese Zeichen betrachten wir eigentlich nicht als Kunst, sondern eher als einen Code oder eine Sprache, die die Pixadores untereinander verwenden. Du findest sie an den unterschiedlichsten Orten, und es erfordert großen Erfindungsreichtum und Mut, um an die bevorzugten Orte in oft schwindelerregender Höhe zu gelangen.“
Die Pixação haben ihren Ursprung in den politischen Slogans, die während der Militärdiktatur in Brasilien Anfang der 1980er Jahre entstanden und die sich gegen soziale Missstände richteten. In dieser Tradition betrachten sich viele Graffiti-Künstler heute noch als Kritiker gesellschaftlicher Widersprüche, auch wenn ihre bunten Wandgemälde teils Auftragsarbeiten sind und damit alles andere als das Ergebnis nächtlicher und illegaler Sprühaktionen.
Zezão zum Beispiel, hat als charakteristisches Markenzeichen eine stilisierte blaue Welle gewählt, die auf Umweltverschmutzung aufmerksam machen soll: „Auf der Suche nach einer Botschaft habe ich begonnen, mich für Umwelt und sauberes Wasser zu engagieren. Früher war das Wasser hier im Fluss Tietê sehr verschmutzt, und es gab immer wieder Probleme mit Überschwemmungen. Meine Kunst war ein Teil des Protests gegen diese Zustände.“
Inzwischen versteht sich Zezão als Multimediakünstler, seine Werke sind in Galerien und Museen weltweit zu finden. Wie für Zezão ist die Straßenkunst für viele auch ein Sprungbrett. Zahlreiche Galeristen in der Stadt haben sich eng mit der Graffiti-Szene vernetzt und fördern junge Talente. Andre Mogle etwa ist ein gefragter Künstler, doch gelegentlich sprüht er wie früher ohne Genehmigung Graffitis. „Ich verdanke der Straße so viel, dass ich mich auch dort weiterhin mit meinen Graffitis für mehr Gerechtigkeit einsetzen möchte.“
Graffiti zu sprühen kann aber auch völlig legal sein: Die großartige Street-Art-Künstlerin Lari bietet Workshops an, in denen die Besucher selbst aktiv werden können. Sie erfahren dann auch, dass Straßenkunst gar nicht so einfach ist. Lari stammt aus einer Künstlerfamilie und kann den Besuchern einen authentischen Einblick in die Graffiti-Szene geben. Besonders stolz ist sie darauf, als Frau in einem männerdominierten Bereich einen Platz und sogar Bewunderung gefunden zu haben: „Am Anfang war es nicht leicht, aber inzwischen gibt es immer mehr Frauen, die großartige Kunstwerke schaffen.“ Martin Höcker