Einer der ältesten Eisenbahnwaggons: Carriage No. 59, Baujahr 1847. Zu bestaunen im Locomotion-Museum.
„Wir machen jeden Morgen zusammen einen Spaziergang“, sagt Gareth Shepherd über sich und seine Dottie. Und so laufen die beiden hinterm Bahnhof in Darlington entlang. Dort, wo die kleinen viktorianischen Backsteinhäuser in Reih und Glied stehen. In den „terraced houses“ wohnten früher die Eisenbahner. Heute in einem davon der 59-Jährige und seine Dottie. Dottie ist eine Katze. „Eine Bahnhofskatze“, präzisiert Shepherd. „Sie ist an Züge gewöhnt. Sie hat ihr ganzes Leben lang hier gelebt.“
Die Eisenbahn, sie prägte nicht nur Dottie, sie veränderte die ganze Gegend. Mehr noch: „Sie veränderte unsere Lebensweise. Sie stieß das Tor zur Welt auf. Sie ebnete der Industrialisierung den Weg“, sagt Mathew Harrison, ein zugbegeisterter „volunteer“, der ehrenamtlich für das Museum Locomotion in Shildon tätig ist, nur ein paar Gleiskilometer von Darlington entfernt.
Shildon, gelegen im nordostenglischen County Durham, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Dorf von gerade mal 100 Einwohnern. Doch explosionsartig wurde es zur „ersten Eisenbahnstadt“ der Welt, weiß man im Museum. Gegen 1890 hatte sich die Einwohnerzahl verachtzigfacht, Shildon war zum größten Rangierbahnhof des Vereinigten Königreichs geworden. Die Eisenbahn sollte für mehr als 100 Jahre der größte und fast einzige Arbeitgeber der Stadt sein.
Die Fahrt, die alles veränderte
34 Waggons beladen mit Kohle aus dem Durham Coalfield und einigen Mehlsäcken, und dazwischen gequetscht hunderte von Menschen, machten am 27. September 1825 den Anfang einer erdumspannenden Entwicklung. Der Zug, gezogen von einer Dampflok, die später den Namen Locomotive No. 1 bekommen sollte, begann seine historische Reise in Shildon, um über Darlington in Richtung Stockton zu zuckeln.
Die Stockton and Darlington Railway war die weltweit erste öffentliche Eisenbahn, die (technisch zuverlässige) Dampflokomotiven einsetzte. Konstrukteur und Zugführer an dem historischen Tag war der Pionier George Stephenson, der zum „Father of Railways“ wurde. Die 26-Meilen-Fahrt „veränderte die Art und Weise, wie die Welt handelte, reiste und kommunizierte“, heißt es auf der Website zum Jubiläum (www.sdr200.co.uk).
Eine „Railwaymania“ begann, sagt Mathew Harrison. Und das Leben wurde einfacher. Weil der Transport von Waren per Dampflok viel schneller ablief als mit von Pferden gezogenen Waggons oder über die Flüsse, beschleunigte sich der Handel. „Viele Leute hatten erstmals jeden Tag frische Milch.“
Der Tourismus
nahm Fahrt auf
Bald wurde die Linie bis zum Hafen in Middlesbrough erweitert, um die Kohle aus den Zechen Shildons schneller auf die Schiffe zu kriegen. Auch der Tourismus nahm Fahrt auf – spätestens 1830 mit der ersten, allein für den öffentlichen Verkehr vorgesehenen Bahnstrecke zwischen Liverpool und Manchester. Konstrukteur der dort eingesetzten Lok, der weltberühmten The Rocket, war abermals George Stephenson, zusammen mit seinem Sohn Robert.
Nebenbei erfand Thomas Cook im Zuge der Gleisrevolution die Pauschalreise. Der Tourismus-Pionier erkannte das Potenzial der Eisenbahnen für den frühen Massentourismus. 1841 fuhr zwischen Leicester und Loughborough erstmals ein Zug, dessen Passagieren Cook das Ticket inklusive Snacks und Getränken als Komplettpaket verkaufte.
Unterwegs auf historischer Strecke
Wer heute an die historische Stätte im County Durham kommt, kann in Eisenbahngeschichte versinken. Auf der Strecke Darlington–Shildon ist man teils im alten Gleisbett unterwegs. Außerdem geht die Fahrt über die älteste Eisenbahnbrücke der Welt, die noch als solche genutzt wird: die Skerne Bridge von 1825, über die auch schon Locomotive No. 1 dampfte. In Shildon beginnt am Museum Locomotion ein Fußweg, wo man etwa an den Cole Drops aus den 1840er-Jahren vorbeikommt (hier fuhren die Lokomotiven vor, um von oben Kohle in ihre Tender plumpsen zu lassen) oder am Kilburn‘s Warehouse von 1826, eines der ältesten Eisenbahngebäude der Welt.
Wer die originale Locomotive No. 1 sehen möchte, muss sich den 27. September vormerken. Da wird sie zurück in Shildon sein, als Teil der Locomotion-Dauerausstellung. Ein Gänsehautmoment für alle Eisenbahnfans. Stefan Weißenborn/dpa