Paradies für Wanderer, Biker, Gourmets und Murmeltier-Fans

von Redaktion

„Klein-Tibet“ wird Livigno genannt. Weil hier in einem abgelegenen italienischen Tal an der Grenze zur Schweiz im Winter noch fast alles so ist, wie es früher einmal in den gesamten Alpen war.

Zwei Meter Schnee sind hier auf 1816 Metern Höhe keine Seltenheit, sondern immer noch die Regel. Touristen und Skifahrer erleben hier noch ihr Winterwunderland, das es anderswo längst nicht mehr gibt. Etwa 1,8 Millionen Menschen kommen deshalb in den noch etwa sechs Schneemonaten jede Saison nach Livigno – in den restlichen Monaten sind es vergleichsweise überschaubare gut 600.000. Aber wie ist eigentlich „Klein-Tibet“ im Sommer?

Auf jeden Fall deutlich kälter als der Hochsommer in Deutschland. Als wir an einem verregneten Juliabend ankommen, zeigt das Thermometer zapfige sechs Grad. Die erste Nacht im Hotel Alba ist nach all den heißen Sommernächten daheim mit zu wenig Schlaf eine echte Wohltat. Am nächsten Morgen lacht nach einem echten Gourmet-Frühstück mit backfrischen Muffins, Früchten und italienischen Schinken die Sonne vom stahlblauen Himmel, im Hintergrund leuchten noch Schneereste von den Dreitausendern. Das macht Lust rauszugehen und den Ort mit etwa 7000 Seelen zu entdecken.

Zwei Dinge fallen gleich beim ersten Blick auf: Einmal die großen Baustellen auf beiden Seiten des Tals, wo auf bereits bestehenden Skipisten eine Halfpipe, Schanzen und Slopestyle-Strecken entstehen. Gewerkelt wird hier für die Winterspiele, wenn in Livigno 26 olympische Gold-Medaillen im Snowboard und Freestyle-Ski vergeben werden. Das andere, was beim Gang durchs Ortszentrum ins Auge sticht: Die allermeisten Menschen von Jung bis Alt haben neben einem breiten Lächeln im Gesicht einen Wanderrucksack auf dem Rücken. Oder sie düsen auf (E)-Bikes durch die Straßen.

Beliebtester Trainingsort für Radprofis

Die Rennradfahrer sind auf dem Weg zu einer der Serpentinenstraßen, die für alle Profi-Radteams des Planeten wegen der Höhenlage, der beinharten Anstiege und des perfekten Umfelds mit dem großen Sport- und Wellnesszentrum Aquagranda einer der beliebtesten Trainingsorte weltweit sind. Nach ein paar Stunden sind schon Profis von Red Bull-BORA-hansgrohe, Cofidis oder dem UAE Team Emirates von Superstar Tadej Pogacar an uns vorbei gezischt – und das während der laufenden Tour de France. Die in Livigno mindestens genauso häufig zu sehenden Mountainbike-Fahrer zieht es zumeist zu den Seilbahnen. An der Bergstation angekommen, stürzen sie sich auf atemberaubenden Schlängelpisten, die sich direkt neben oder auf den Skipisten befinden, ins Tal. Oder sie suchen in den Fun-Parks den Adrenalin-Kick auf halsbrecherisch anmutenden Sprungschanzen.

Sportlich scheint hier einfach jeder zu sein. Das reißt erst zu einem langen Spaziergang und dann zur Fahrt mit der Carosello-Seilbahn hin. Der Blick von oben auf Livigno ist atemberaubend. Und der herüberziehende Duft aus dem rustikalen Costaccia Ristorante einfach zu verführerisch. Schnell wird uns klar, dass das hier auf 2360 Metern Höhe keine einfache Berghütte ist. Beim Blick in die Küche fällt ein echt loderndes Holzfeuer hinter Glas auf. Das ist aber kein Show-Element, sondern auf dem heißen Stein darüber werden Steaks gebraten.

Überraschung aus dem Metalleimen

Wir wählen hausgemachte Ravioli mit Datteln und Speck, Kalbszunge mit einer leckeren Soße und Rehbraten aus den Wäldern mit Polenta. Kulinarisch und für das Auge ist alles ein echter Genuss. Die echte Überraschung kommt jedoch nach dem Essen: Unser Kellner taucht mit einem großen, silbernen Metalleimer am Tisch auf und schöpft eine Flüssigkeit in kleine Schnapsgläser. Es ist hausgemachter Blaubeer-Grappa mit ganzen Früchten – einfach himmlisch lecker.

Bei Stopps in den folgenden Tagen in anderen Restaurants wird uns klar, dass das Gourmet-Erlebnis in einer simplen Hütte keine Ausnahme ist. „Wir wollen den Gästen in Livigno perfekte Services und ein exklusives Erlebnis bieten – das ist der Anspruch für den gesamten Ort“, bestätigt Luca Moretti, Chef der lokalen Tourismus-Organisation Livigno Next. Die Zeiten, in denen der Bergort vor allem als Zollfreizone Billig-Touristen anlocken wollte, sind vorbei. Auch wenn Benzin weiterhin unvergleichlich billig und auch ein Besuch in den zahlreichen Restaurants vom Preis-Leistungs-Verhältnis immer noch sehr günstig ist. Im Sommer besonders zu empfehlen: Ein Besuch in der Lattaria, der lokalen Molkerei. Hier gibt es einen üppigen Schoko-Eisbecher mit Milch von glücklichen Kühen für reichlich sieben Euro.

Ein Schicki-Micki-Touristenmekka wie Kitzbühel ist Livigno nicht, der Ort hat sich trotz aller Veränderungen seinen ursprünglichen Charme erhalten. Viele traditionelle Häuser sind aus Holzbohlen oder Natursteinen gebaut, von den Fensterbänken strahlen bunte Blumen. Im Ortsmuseum Mus! kann man sich davon überzeugen, woher diese Bodenständigkeit stammt. Noch bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts war Livigno ein vor allem im Winter teils Monate von der Außenwelt abgeschnittenes Bergdorf, erst seit Anfang der 50iger Jahre wird der Foscagno-Pass (meist) auch in den Wintermonaten (meist) geräumt. Inzwischen gibt es neben dem bisher nur in den Sommermonaten nutzbaren Eira-Pass dazu noch einen ganzjährig befahrbaren Tunnel aus der Schweiz, mit dem Touristen sicher nach Livigno kommen.

Die meisten suchen dann hier neben sportlicher Anstrengung und Adrenalin (Fahrradfahrer) besondere Naturerlebnisse. Die Wanderung auf den Aussichtsberg Crap de la Parè eröffnet uns einen zauberhaften Blick über den Ort, die grandiose Bergwelt und den Lago di Livigno. Auch dort vermissen wir aber einen wichtigen „Natur-Botschafter“, der ein wichtiger Grund für den Trip in diesen so außergewöhnlichen Ort war. Auf vielen Alpen-Wanderungen haben wir Murmeltiere gesucht, aber noch keins gefunden. Auch in Livigno ist uns bisher nur im Ortsmuseum eins aus Holz über den Weg „gelaufen“.

Nach dem Sommer braucht‘s Winterspeck

Also machen wir uns am finalen Wochenende auf ins Val Fedaria. Am Anfang, in den sich noch menschliche Ansiedlungen, mit Bergwald und grünen Wiesen abwechseln, suchen wir vergeblich nach den putzigen Gesellen. Doch dann hören wir einen schrillen Pfiff. Ein Adler? Nein! Wir sehen blitzartig ein paar pelzige Gestalten in ihren Löchern im Boden verschwinden. Jetzt heißt es ein paar Minuten warten, dann tauchen sie wieder auf und beginnen in einer Sicherheitsentfernung von vielleicht 50 Metern vom saftig grünen Gras und Kräutern zu fressen. Die meisten haben sich schon jede Menge Speck angefressen. Auch die Murmeltiere wissen trotz dieser paradiesischen Sommermonate in Livigno: Der Winter ist lang im „Klein-Tibet“ der Alpen.

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