133000 Einwohner hat Ferrara. Und jeder davon angeblich drei Räder. So erzählen es unisono Kellner, City-Guides oder Stadt-Broschüren. Macht zusammen fast 400000 Räder in der oberitalienischen Uni-Stadt. Überraschend aber, dass, wo immer man hinschaut in Ferraras mittelalterlichen Gassen oder auf sonnenverwöhnten Plätzen, nur Oldie-Räder rollen oder lehnen: Viele davon Flugrost-gesprenkelt, am Rohr-Rahmen die Drahtseilschaltung, den Lenker ziert eine klobige Ding-Dong-Klingel, darunter baumelt der birnenförmige Chrom-Scheinwerfer, betrieben vom surrenden Dynamo.
„Ja, so sehen unsere Alltagsräder aus“, sagt Luca, Kellner in der „Trattoria da Noemi“, und senkt die Stimme: „Hier wird ja viel geklaut, darum holen wir Ferrarese unsere guten Räder nur sonntags raus – für die Tour ins nahe Po-Delta.“ Und welche Modelle bieten Ferraras Hoteliers an? Immerhin preisen viele ihren Fahrrad-Verleih als besonderen Service, damit ihre Gäste Italiens fahrradfreundlichste Stadt radelnd erkunden können. Bitte die Ansprüche runterschalten, in etwa bis zum klapprigen Second-Hand-Drahtesel der Schulzeit.
Ähnlich abenteuerlich wie die Fahrten damals sind heutige Ferrara(d)-Touren. Noch vor Ferraras prachtvollen Kirchen, Palazzi und Torbögen macht jeder Radler hautnah Bekanntschaft mit Ciottoli di Fiume. Wörtlich übersetzt: Flusskiesel. Kastanien- bis apfelgroß, bilden sie das fotogene Kopfsteinpflaster mittelalterlicher Gassen, das jeden Sattel eines typischen Ferra-Rads brutal durchrüttelt. Ob die Rentner der Stadt deshalb ihre Räder lieber schieben, wenn sie morgens aus allen Himmelsrichtungen zum Castello Estense schlurfen? Dort, wo das Adelsgeschlecht der Este ab 1385 zwei Jahrhunderte in der mächtigen Festung herrschte und bis heute zu besichtigende Kunstschätze sammelte, da treffen sich täglich weißhaarige Senioren, palavern lautstark und gestikulieren.
Hinein in die Altstadt, wo die Gassen im ehemaligen jüdischen Viertel besonders verwinkelt und eng sind, aber glattes Pflaster haben: Ein paar Minuten Rumpel-Erholung für den Hintern! In der Via della Vittoria steht die Tür eines kleinen Ladens offen. Drinnen hantiert ein älterer Herr mit einer Schere, fast so groß, dass sie zum Heckeschneiden taugt. Giorgio Caleffi hat seine Sartoria – die Schneiderei – hier 1962 eröffnet und seitdem an jedem Werktag Anzüge entworfen, Hosen gekürzt oder Hemden genäht, erzählt er stolz und betont: „Sehr oft für die „Biancazzurri“ – die Weiß-Blauen“. So werden die Kicker von Ferraras Fußballclub SPAL genannt. Die Werkstatt ist tapeziert mit Mannschaftsfotos, Autogrammkarten und vergilbten Zeitungsartikeln. Der 86-jährige Schneider ist ein wandelndes Lexikon des italienischen Fußballs und redet sich in Rage darüber, was seiner Meinung nach derzeit gerade wieder falsch läuft im Club. Dabei fuchtelt er mit seiner XXL-Schere und erklärt angesichts ängstlicher Kundenblicke, die habe er 1949 von Verwandten aus Südamerika geschenkt bekommen.
Das spartanische Leih-Rad rumpelt weiter durch die Via della Vittoria, in der Via delle Volte schweift der Blick nach oben, auf brückenartige Mini-Häuser, die diese zwei Kilometer lange Gasse vielerorts überspannen. Es waren früher Verbindungstrakte zwischen den Lagerhäusern am Fluss Po und den dahinterliegenden Wohnhäusern. Bis der Po sich über etwa drei Jahrhunderte ein anderes Flussbett erschloss. Hier, abseits von Fußgängerzone und Geschäften, scheint es, als sei Ferraras Altstadt ausgestorben. Ein Irrtum – 90000 der gut 130000 Ferrarese leben hier, kaufen ihre Lebensmittel um die Ecke. „Coppia Ferrarese“ etwa – das typische Sauerteigbrot der Stadt, angeblich gedrechselt wie die Zöpfe der unehelichen Papsttochter Lucrezia Borgia, die im 16. Jahrhundert als Fürsten-Gattin im Castello Estense residierte. Das beste Coppia entsteht in der Bäckerei Perdonati, wo in der Backstube der quietschgelbe Teig aufs Blech und in den Ofen kommt.
Beim Einbiegen in die Via Mazzini dreht sich nach dem Lenker nun auch der Sattel des Leihrads leicht mit, also erst mal absteigen, die Zwingschraube fester ziehen. An den pastellfarbenen Fassaden von Ferraras Flaniermeile lehnen besonders viele Graziellas. Italienische Klapprad-Klassiker mit dem Spitznamen „Rolls Royce du Brigitte Bardot“, denn die französische Schauspielerin war Graziella-Fan und posierte in den 1960er-Jahren gern damit vor Luxus-Karossen.
Höchste Zeit für richtige Radwege, damit das Leihrad nicht völlig auseinanderfällt. Die gibt´s dort, wo sich die neun Kilometer lange Stadtmauer um die Altstadt schlängelt. Sie ist aus leuchtend roten Lehmziegeln gebaut und hat bedenklich Karies. Vor allem in Bodennähe. Dort haben die Ferrarese schon nach dem Krieg Backsteine aus der Mauer geschlagen, um ihre Häuser damit aufzubauen. Heute schleichen sich nachts immer noch Mauer-Spechte hin, brechen die porösen Quader aus der Mauer, verkaufen sie weiter für Renovierungen, stylish umgebaute Lofts oder als Souvenirs. Die einst zahlreichen Ziegeleien Ferraras haben dichtgemacht, es fehlt Neuware und so machen Stein-Dealer mit „Second-Hand“-Steinen Geschäfte.
Auf dem Weg zurück in die Altstadt, bleibt die Erkenntnisse. Wenn das Leihrad nicht bis zum Hotel durchhält, wird es ganz sicher als Speisekarten-Halter vorm Restaurant wiederverwertet. Passt einfach zu gut zu Italiens fahrradfreundlichster Stadt. Stephan Brünjes