Entlang des früheren Todesstreifens zwischen Prenzlauer Berg und Wedding säumen Herbstbäume den alten Grenzverlauf. Hier soll die Mauer gestanden haben, die West-Berlin viele Jahre ein Inseldasein beschert hat? Sind 35 Jahre nach der Wiedervereinigung in und um Berlin noch Reste des Monstrums sichtbar? Wer die Antwort sucht, sollte sich auf Spurensuche begeben, am besten mit dem Fahrrad. Der rund 160 Kilometer lange Mauerweg folgt fast komplett dem Verlauf des früheren Todesstreifens. 600 Schautafeln informieren über die Geschichte des jeweiligen Ortes.
Doch wo sollte man den Rundkurs beginnen? „Am besten im Norden Berlins am S-Bahnhof Bornholmer Straße“, rät Stadtführer Sascha Möllering, Guide von Berlin on Bike, „wer hier startet, wird gleich mit einer geballten Ladung Geschichte konfrontiert, denn in der Nacht des 9. November 1989 öffneten DDR-Grenzer an dieser Stelle zuerst die Mauer in Berlin.“
Großformatige Tafeln informieren hier mit Fotos und Texten über den alten Grenzverlauf, der die Nachbarn trennte. „Die S-Bahnen mussten hier mit vollem Tempo durchheizen – und die Notbremsen wurden vorübergehend deaktiviert“, so Möllering und erklärt, warum: „Um die Flucht aus der Bahn heraus zu verhindern.“
Vom Grenzübergang ist nichts mehr zu sehen. Wo einst streng kontrolliert wurde, steht heute ein Supermarkt. Und wo früher der Posten patrouillierte, markiert die Baumallee den Grenzverlauf. „Wie friedlich“, freut sich Möllering. Er tritt in die Pedale und rollt Richtung Mauerpark, wo das archäologische Fenster seit 2020 ein Stück Grenzgeschichte in einer Open-Air-Ausstellung zeigt. „Das sind die Überreste einer Panzersperre, die die Flucht per Auto oder Lkw aus der DDR verhindern sollte“, kommentiert der gebürtige West-Berliner den Fund, der erst seit ein paar Jahren in der Ausgrabungsstelle zu sehen ist.
Ein paar Meter weiter erstreckt sich an der Bernauer Straße die Gedenkstätte Berliner Mauer. Dazu gehören das Denkmal zur Erinnerung an die geteilte Stadt und das Fenster des Gedenkens, in dessen Nischen 130 Porträtfotos von Mauertoten zu sehen sind. „Hier kriege ich immer eine Gänsehaut“, sagt Möllering, der viel über Fluchtschicksale weiß.
In der Innenstadt ist der frühere Grenzverlauf der Mauer durch eine Spur von Pflastersteinen und Metallplatten im Boden gekennzeichnet – das sollen angeblich sogar manche Berliner nicht wissen. Weithin bekannt allerdings sind die plakativen Grenzorte Checkpoint Charlie, Brandenburger Tor und East Side Gallery, der auf 1,3 Kilometer bemalte, längste verbliebene Mauerrest.
Der Mauerweg zieht sich weiter im Zickzackkurs durch die Stadt. Er führt am Teltowkanal entlang, später an Wiesen und Feldern vorbei, schließlich über holprige Strecken, später auf idyllischen Waldwegen Richtung Potsdam. Nennenswerte Steigungen gibt es nicht. Sportliche Radfahrer können die rund 160 Kilometer auch an einem Tag „abreißen“, allerdings bleibt dabei kaum Zeit für den Geschichtspfad, der zum Absteigen motiviert.
Unterwegs lohnt sich ein Abstecher nach Steinstücken. Bis zur Wende war dieser Wurmfortsatz des Ortsteils Wannsee ein Mini-Stück Amerikanischer Sektor inmitten der Sowjetischen Besatzungszone – „die einzige dauerhaft bewohnte Exklave der eingemauerten Stadt“, erklärt Potsdam-Guide Robert Freimark.
Ein paar Kilometer weiter erinnert die Glienicker Brücke an den Kalten Krieg. „Wer hätte gedacht, dass es hier noch mal 2015 zu einem Spionageaustausch zwischen den USA und der Sowjetunion gekommen ist…“, irritiert Freimark. 2015? „Ja, im Spielberg-Film ,Bridge of Spies‘!“ Ein Scherz über Geheimagenten – doch auch wenn die Strecke im Westen und Norden weitab von Besiedlungen durch märkische Landschaften verläuft, bleibt der Ernst keinesfalls auf der Strecke. Die 139 Maueropfer werden an zahlreichen Orten eindrucksvoll ins Bewusstsein gerückt.
Zum Beispiel am Mauerstück mit Rohrauflage, das als Denkmal nördlich des Glienicker Sees zu sehen ist. Oder durch die zahlreichen orangefarbenen Stelen, die von Fluchtversuchen erzählen. Oder nordwestlich von Berlin beim ehemaligen Wachturm Nieder Neuendorf, der als Führungsstelle diente. Heute informiert dort eine Ausstellung über Struktur und Alltag der DDR-Grenztruppen, den Aufbau der Sperranlagen und die Geschichte von Flüchtlingen, Ausreisewilligen und Oppositionellen aus der Region. Auch am Wachturm in Hohen Neuendorf klären großformatige Tafeln über Grenzdetails auf. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Mauer zwar weg, aber sie sollte nicht vergessen werden. Katrin Schreiter/srt