6.59 Uhr im Maggiatal. Die Sonne malt einen goldenen Strich über den Bergkamm. Im Talgrund tollt der Nebel über das Flussbett, greift nach der geschwungenen Stahlbrücke, fließt über die Wiesen. Oberhalb, in 317 Metern Höhe, liegt das Dorf noch im Dunkeln. Roger Welti stapelt in einer kleinen Kate frisches Holz auf die Glut, öffnet das Fenster. Der Wind schlägt Funken, die Scheite entzünden sich. Behutsam legt der 55-Jährige nach, schürt, löscht marodierende Glut mit Kastanienschalen, damit die Flammen nicht überhandnehmen. Nach einer guten halben Stunde ist das Feuer entfacht und kontrolliert. Roger schließt das Fenster, tritt aus dem Häuschen – und atmet tief ein. „Diese halbe Stunde“, erzählt Roger, „wenn das Tal noch schläft und ich die Glut vom Vorabend entfache, gehört zu meinen schönsten Momenten.“ Ein Eintauchen in eine vergangene Zeit. In einen vorindustriellen Rhythmus. „Nur du, das Feuer und die Stille.“
Roger Welti ist Fuochista in der Grà von Moghegno, einem 400-Seelen-Dorf im Tessin. Seit 1993 engagiert sich der ehemalige Lehrer – gemeinsam mit einem Dutzend Helfern – für den Erhalt der alten Dörrhäuser, zeigt Schulklassen die Funktionsweise der Grà, kümmert sich aber auch um die alten Mühlen, in denen die getrockneten Maroni zu Mehl gemahlen wurden. „Jahrhundertelang brachten die Dorfbewohner ihre Kastanien in das kleine Gemeinschaftshaus aus Granit, wo sie unter lodernden Scheiten langsam trockneten und so haltbar gemacht wurden“, erzählt der 61-Jährige. Die Aufgabe des Wächters war es, das Feuer im Erdgeschoss nicht ausgehen zu lassen und Sorge zu tragen, dass die Maronen – oder gar das ganze Gebäude – nicht verbrannten. Waren doch die Früchte des Kastanienbaums für die verarmte Bevölkerung in den abgelegenen Tälern des Tessins die wichtigste, oft gar die einzige Nahrungsquelle im Winter.
„Nach drei Wochen haben die Kastanien ein Drittel ihres Gewichts verloren und sind bereit zum Entladen“, erklärt Roger. Ein Ereignis, zu dem früher das ganze Dorf zusammenkam. Die noch warmen Kastanien werden in lange Tuchtaschen gefüllt und gegen einen Granitstein oder Baumstamm geschlagen. Nach dem Schlagen werden die Schalen von der Frucht getrennt – modern in einer Art Zentrifuge oder traditionell mit einem flachen Strohkorb. Zum Schluss wird noch mal mit der Hand gesäubert. „In seiner Blütezeit gab es mindestens ein Dutzend Grà im Dorf“: Im Grundriss drei mal drei Meter, vielleicht vier Meter hoch. Fassungsvermögen im oberen Stock bis zu 750 Kilo Kastanien. „Das reichte für mehrere Familien.“
„Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts kam die Marone häufig zweimal am Tag auf den Teller“, erzählt Roger – als Suppe mit Früchten und Rahm; als Fladen mit Rosmarin, Pinienkernen und Rosinen; oder als eine Art Polenta, mit Käse abgeschmeckt. Der Baum war eine gern gesehene Mitgift, wenn die Frau heiratete, konnten doch zwei ausgewachsene Exemplare eine kleine Familie über das Jahr bringen. Sein Holz wurde zu Möbeln verarbeitet, als Dachbalken genutzt oder für den Hangschutz, denn dank des hohen Gerbsäuregehalts ist es witterungsbeständig und resistent. Die Blätter dienten den Bauern als Streu für den Kuhstall.
Vier Hektar Kastanienwälder verteilen sich im Tal des Maggia rund um das Dorf. Auf gut der Hälfte lässt ein Bauer seine Ziegen durch die Wälder streifen. Sie halten das Unterholz frei, sodass die Kastanienbäume gedeihen können. „Einige von ihnen sind bis zu 200 Jahre alt“, weiß Roger, „und bis zu dreißig Meter hoch.“ Etwas weiter unten stehen historische Mühlen. Sie kleben am Hang, eine über der anderen. „Genial konstruiert“, denn so könne das Schmelzwasser vom Monte della Spina in rund 1600 Metern Höhe in nur einem Kanal alle Mühlräder in Bewegung setzen. Sven Rahn