Ist das hier „Die unendliche Geschichte“? Ich fühle mich wie mitten im Roman von Michael Ende. Nicht wegen der märchenhaften Landschaften und obskuren Felsformationen, durch die wir unsere Bikes jagen. Sondern weil dieser unfassbare Trail einfach kein Ende findet! Seit einer Dreiviertelstunde schaukeln wir unsere vollgefederten Spaßbringer zwischen alten Baumriesen, quietschbunten Flechten und vollgesogenen Moospolstern über den Blue Tier Trail. Über 20 Kilometer schlängelt sich der Trail der Superlative vom gleichnamigen Blue Tier Plateau hinunter nach Weldborough.
„Das ist wie ein Jurassic Park für Mountainbiker“, entfährt es meiner Freundin Lisa, als wir auf einer kleinen Anhöhe Pause machen und den Blick über die wilde und für uns fremd wirkende Landschaft schweifen lassen. Lisa und ich fahren seit zwei Jahrzehnten Mountainbike und haben bereits so einige Trails unter die Räder genommen. In den über zehn Jahren, die wir uns kennen, haben wir es immer geschafft, einmal im Jahr einen gemeinsamen Biketrip zu unternehmen. Zu Studienzeiten ging das in den Semesterferien, seit drei Jahren in den spärlichen, aber darum umso mehr gefeierten Auszeiten, die das Familienleben so mit sich bringt. Von den sonnigen Trails im Südtiroler Vinschgau, über die gebauten Murmelbahnen in Livigno bis hin zu hochalpinen Pfaden im Schweizer Laax.
Vor ein paar Monaten schickte mir Lisa dann einen Youtube-Link zu einem Video über die Trails rund um den tasmanischen Ort Derby und wir hatten sofort Feuer gefangen. Zugegeben, die Anreise auf die Insel „under down under“, wie die Australier ihren südlichsten Bundesstaat nennen, ist alles andere als kurz. Doch die außergewöhnliche Landschaft und die freundschaftlich-lässige Stimmung der Menschen hier machten den langen Flug schnell vergessen.
Immer tiefer tauchen wir in einen Zauberwald aus altehrwürdigen Eukalypten, meterhohem Heidekraut und wuchernden Farnen ein, die uns wie grüne Riesenkraken mit ihren Tentakeln zuwinken. Hier und da machen uns Überreste des einst blühenden Zinnbergbaus auf die einzigartige Geschichte der Region aufmerksam. „Als wir vor über zehn Jahren hierher gekommen sind, konntest du froh sein, wenn du überhaupt andere Menschen getroffen hast“, sagt Steve, unser Guide. Zusammen mit seiner Frau Tara betreibt er seit 2017 die Blue Derby Pods, ein exklusives Glamping.
Bevor Mountainbiker aus aller Welt neues Leben nach Derby gebracht haben, stand der winzige tasmanische Weiler kurz vor dem Ruin. Mit weniger als 200 Einwohnern machte sich Jahrzehnt für Jahrzehnt ein langsamer Niedergang breit, der zur Schließung der Schule und zum Verschwinden lebenswichtiger Geschäfte geführt hatte: Immer mehr junge Leute zogen weg. Die örtliche Zinnmine hatte schon lange dicht gemacht. Die Lebensmittelfabrik schloss, ebenso der Gemischtwarenladen, der Bäcker, der Metzger, das Elektrogeschäft und zwei Kurzwarenläden. Zeitweise waren nur noch das Postamt, die Autowerkstatt und die beiden Kneipen geöffnet. Sonst gab es nichts. Derby lag am Boden. „Eine Geisterstadt“, sagen die Einwohner.
Über 3,1 Millionen Aussie-Dollar steckte die australische Regierung in den Bau des Blue-Derby-Mountainbike-Netzwerks. Als die Forstbehörde grünes Licht gab, holte sich eine Handvoll Bike-Enthusiasten, zu denen auch Steve gehörte, mit Glen Jacobs, einen der weltbesten Trail-Bauer nach Derby. In kurzer Zeit stampften er und sein Team dutzende Kilometer feinste Trails aus dem Boden. „Wenn man die Leute auf ein Fahrrad setzt, verschwinden all ihre Probleme. Immer mehr Menschen wollen diesem schmalen Band folgen und sehen, wohin es führt“, philosophierte WorldTrail-Gründer Jacobs damals.
Wie Recht er hatte. Auch wir spüren sie, die heilende Kraft unseres heiß geliebten Mountainbike-Sports und ganz viel Glück auf dieser einzigartigen Reise. Von Problemen keine Spur… Max-Marian Boyzanovic