München – Kriege, Migration, Pandemie – das hat auch in den Schulen Spuren hinterlassen, sagt Dieter Lenzen. Der Erziehungswissenschaftler und langjährige Präsident der Hamburger Uni leitet den Aktionsrat Bildung, der im Auftrag der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw) seit 2005 jedes Jahr Bildungsgutachten verfasst. Leitfrage der Wissenschaftler war diesmal, wie Schule trotz steigender Heterogenität zum sozialen Zusammenhalt – die Forscher sprechen von Kohäsion – beitragen kann.
Hauptherausforderung, so stellen die Forscher fest, ist die Migration. Der Anteil der Grundschüler, deren beider Eltern in Deutschland geboren sind, ist von 77,6 Prozent (2001) auf 63,6 Prozent (2021) gesunken. Der Anteil von Kindern mit ausländischem Pass stieg von 12,5 (2018/19) auf 15,5 Prozent (2022/23). Und der Anteil der Grundschüler, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, liegt nun bei 21 Prozent – vier Prozent mehr als noch 2016.
Egal wie sich die Migration künftig entwickelt, die Schule müsse jetzt damit umgehen, sagt Lenzen. Der Aktionsrat empfiehlt, vor allem bei der Grundschule anzusetzen. „Die Maßnahmen müssen greifen, bevor ein Kind auf die weiterführende Schule wechselt.“ Eine Forderung: die Aufnahme von Gemeinwohl-Zielen, etwa „tolerantes Zusammenleben“, in die Lehrpläne. Anders als in den USA sei das in deutschen Grundschulen bisher unüblich und wenn, dann vor allem Aufgabe von Sachkunde, Ethik und Religion. Lehrern und Lehrerinnen wird empfohlen, dabei Konflikten mit Elternhäusern, etwa latentem Antisemitismus, Queer-Hass oder Rassismus, nicht auszuweichen.
Die Forscher halten auch verpflichtendes soziales Engagement der Grundschüler für wichtig und empfehlen auch kleine Maßnahmen wie etwa regelmäßiges Plätzetauschen im Klassenzimmer, damit sich nicht nur feste Freundescliquen herausbilden.
Ebenso bedeutsam ist für Lenzen konsequente Sprachförderung mit „regelmäßiger individueller Diagnostik“ – und das ist ein Punkt, an dem auch die vbw ansetzt. Fehlende Sprachkenntnisse erschwerten den Zugang zur Gesellschaft, lässt sich vbw-Präsident Wolfram Hatz zitieren. „Falls die Rückstände in der regulären Grundschulzeit nicht aufgeholt werden, sollte der Besuch der Grundschule verlängert werden.“
Was das genau heißen würde – fünf Jahre für Migrantenkinder, oder aber für alle? – führt Hatz nicht aus. Für Simone Fleischmann, Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV), ist aber klar, dass Hatz einen empfindlichen Nerv berührt. „Wir begrüßen das sehr.“ Es gebe einfach eine neue Entwicklung. Die Pisa-Ergebnisse hätten ja gezeigt, dass ein Teil der neu zugezogenen Kinder „nicht wegen mangelnder Intelligenz, sondern allein wegen fehlender Sprachkenntnisse“ nicht mithalten könne und am geforderten Schnitt von 2,33 scheitere. Das bayerische Schulsystem sei an dieser Stelle einfach „unfair“, sagt BLLV-Chefin Fleischmann.
Ob aus den einzelnen Äußerungen nun eine Debatte entsteht, wird man sehen. Die CSU dürfte scharf ablehnend reagieren. Der Aktionsrat Bildung übrigens verkneift sich – wohl wissend, welche Sprengkraft das Thema haben kann – jede Schulstrukturempfehlung. Im Gutachten heißt es zur Sprachförderung aber vielsagend, Veränderungen seien „dringend notwendig“.