„Ich habe Tränen in den Augen“

von Redaktion

Schock in Edling: Pfarrer Georg Pitzl soll mindestens ein Kind in der Gemeinde sexuell missbraucht haben. Für Richard Kick, Sprecher des Betroffenenbeirats der Erzdiözese München-Freising, „keine große Überraschung“. Als Kind habe ihn Pfarrer Pitzlsexuell missbraucht.

Edling/Eichenau – Großes Entsetzen in Edling: Nachdem die Erzdiözese München-Freising im Gottesdienst am Sonntag bekannt gegeben hat, dass Pfarrer Georg Pitzl mindestens ein Kind in der Gemeinde sexuell missbraucht haben soll, reagiert die Gemeinde mit Betroffenheit. „Ich bin völlig überrascht“, sagt ein Edlinger, der nicht namentlich genannt werden will, zu den Vorwürfen. Er sei selbst Ministrant unter Pitzl gewesen. „Wir haben nichts mitbekommen“, verdeutlicht er. Er habe auch nach Bekanntwerden der Vorwürfe mit anderen damaligen Ministranten gesprochen. Auch sie sollen „von nichts“ gewusst haben, sagt er.

Der damalige Pfarrer sei eine „kräftige Person“ mit „starkem Charakter“ gewesen, weswegen Pitzl in seiner Funktion als Kaplan „eher unter dem Radar“ gelaufen sei, vermutet der Bürger. Der Fokus der Einwohner habe also nicht auf Pitzl gelegen. Andere erinnern sich an den damaligen Kaplan als „sehr streng“, sagt eine Edlingerin, die ebenfalls anonym bleiben möchte. Sie berichtet von „schlechten Erfahrungen“ bei ihrer Beichte zur Erstkommunion. Der Kaplan habe sich ihr gegenüber „sehr harsch“ verhalten. Bürgermeister Matthias Schnetzer reagiert ebenfalls „überrascht“. Er habe von den Vorwürfen aus der Zeitung erfahren. Gerüchte über den Kaplan habe es keine gegeben, verdeutlicht der Rathauschef.

Kick hatte Pitzl schon im Jahr 2010 gemeldet

Anders verhält es sich für Richard Kick, Sprecher des unabhängigen Betroffenenbeirats der Erzdiözese München-Freising. Für ihn seien die Missbrauchs-Vorwürfe über Pfarrer Pitzl „keine große Überraschung“. Kick ist nicht nur Sprecher des Beirats, sondern auch selbst Betroffener. Als Kind sei er in Eichenau (Landkreis Fürstenfeldbruck) von Pfarrer Pitzl sexuell missbraucht worden. Lange Jahre habe der 67-Jährige dieses schreckliche Ereignis mit sich getragen, bis er sich 2010 dazu entschloss, Pfarrer Georg Pitzl bei der Erzdiözese zu melden. Fast 15 Jahre sind seitdem vergangen, in denen Kick unermüdlich für die Aufklärung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche und Hilfe für die Betroffenen kämpft.

„Jedes Mal, wenn in den Medien wieder über Missbrauchsfälle berichtet wird, dauert es nur wenige Tage – und schon bekomme ich Anrufe und E-Mails von weiteren Betroffenen“, sagt der Sprecher des Betroffenenbeirats. „Das wird dieses Mal genauso sein“, ist er überzeugt. Besonders auffällig sei, dass sich die Fälle „derzeit im Wasserburger Raum ballen“ würden, meint er. In der jüngsten Zeit habe Kick wahrgenommen, dass sich vermehrt Frauen bei der Erzdiözese melden würden, um Missbrauch durch Geistliche anzuzeigen. „Das empfinde ich als sehr positiv. Ich kenne selbst viele weibliche Betroffene und kann jede und jeden nur bestärken, sich bei den unabhängigen Ansprechpartnern zu melden oder aber auch beim Betroffenenbeirat“, betont er.

Kick kann „gut“ über die traumatischen Ereignisse sprechen, die er in seiner Kindheit erlebt hat – und trotzdem „bleibt ihm erst einmal die Luft weg“, als er den Artikel über den Missbrauchsvorwurf in Edling liest. „Es erschüttert mich zutiefst. Mir schießen direkt die Tränen in die Augen“, sagt er im Gespräch mit der Redaktion. Denn er weiß – die Person, die sich an die Erzdiözese gewandt habe, habe vermutlich Ähnliches erlebt, wie er selbst.

Pitzl war von 1960 bis 1963 in Edling als Kaplan tätig und wechselte dann nach Eichenau. 1972 wurde Pitzl dann nach Schnaitsee versetzt – seine erste Stelle als Pfarrer. Dort war er bis 1993 tätig.

„Die Gesellschaft
hat weggeschaut“

Für Kick immer wieder erschütternd: „Es dokumentiert, wie umfassend Täter Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Die Geistlichen konnten sich frei bewegen, unbehelligt – und die Gesellschaft hat weggeschaut“, kritisiert er. „Der Missbrauch wurde einfach akzeptiert. Da könnte ich bis heute regelrecht ausflippen“, verdeutlicht der Sprecher des Betroffenenbeirats.

Ein weiterer Kritikpunkt von Kick: Das Verhalten der Bayerischen Staatsregierung. „Die Kirche kann diese Fälle nicht alleine aufarbeiten. Der Staat muss endlich die Verantwortung dafür übernehmen“, fordert er. Im Jahr 2010, als Kick seinen Missbrauchsfall öffentlich gemacht hat, habe ihm die Kirche „viele Zugeständnisse“ gemacht: „Es wurde Aufklärung versprochen und Hilfe angeboten“, berichtet der 67-Jährige. „Passiert ist nichts. Null.“ Deswegen müsse die Aufklärung von politischer Seite her geschehen, fordert er. Ein mühsamer Kampf, den er aber erneut angehen will.

Seit 2021 ist Kick Sprecher des unabhängigen Betroffenenbeirats. Eine Aufgabe, die ihn tagtäglich mit Missbrauchsfällen konfrontiere. Er halte es „mal gut, mal schlechter“ aus. Bei einem Fall wie Edling, in den er selbst involviert sei, brauche er erst einmal „ein paar Tage, um die Nachricht zu verdauen“. Doch anderen Betroffenen zu helfen, „gibt mir Energie und motiviert mich, weiterzumachen und durchzuhalten.“ Im Juni sei auch wieder eine Rad-Wallfahrt geplant, dieses Mal nicht nach Rom, sondern zu den „Täter-Gemeinden“. Die Pilgerfahrt führe die Teilnehmer durchs Wasserburger Land, den Landkreis Rosenheim, den Chiemgau – „bis in die Berge“ hinein.

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