„Sag mal, trinkst du?“

von Redaktion

Wenn sich alles um Alkohol dreht – Selbsthilfeorganisation für Betroffene

Wasserburg/Stephanskirchen – Verzicht auf soziale Medien, weniger Zucker, kein Alkohol: Viele entsagen in der Fastenzeit den kleinen Lastern im Leben. Seit Jahrhunderten praktizieren das die Menschen in aller Welt – früher vor allem aus religiösen Gründen, heute auch, weil sie den freiwilligen und bewussten Verzicht als Bereicherung empfinden.

Doch Regina H., Vorsitzende der Kreuzbund-Frauengruppe in Wasserburg, weiß auch: Am Stammtisch, im Bierzelt, bei Festivitäten – etwas trinken gehört für die meisten dazu. Radler zum Mittagessen, abends ein Stamperl Schnaps. „Bei uns in Bayern irgendwie gang und gäbe“, erklärt sie. „Alkohol ist ja auch ein Genussmittel“, weiß die Kreuzbund-Vorsitzende. Für viele sei die Frage nach dem Konsum, der Menge oder der Regelmäßigkeit „kein Thema“.

Selbst
betroffen

Doch bei Regina H. selbst wurde es irgendwann zum Thema, denn die Stephanskirchenerin ist nicht nur Vorsitzende der Selbsthilfegruppe für Alkoholkranke, sondern auch Betroffene. „Der Unterschied zwischen mir und den anderen Teilnehmerinnen des Treffens ist, dass ich einen Schlüssel zu den Räumlichkeiten habe“, sagt sie lachend. „Ansonsten bin ich auch nur ein Mitglied.“

Acht Frauen treffen sich zweimal im Monat im Caritashaus am Heisererplatz in Wasserburg, darunter auch Angehörige von Alkoholkranken. Dass auch Familienmitglieder teilnehmen, empfindet H. als „sehr wertvoll“. So bekomme jemand, der trinke, eine andere Perspektive auf sein eigenes Verhalten gespiegelt.

Der Unterschied zu den „Anonymen Alkoholikern“: „Untereinander kennen wir uns, es sind schon langjährige Freundschaften durch die Zusammenkünfte entstanden“, so H. Trotzdem sei die oberste Regel der Gruppe: „Alles, was dort besprochen wird, bleibt in diesem Raum“, verdeutlicht sie. Es sei ein „sicherer Ort“ für alle Beteiligten. Dort müsse niemand „Leistung bringen oder eine Rolle spielen.“ Einer von vielen Gründen, warum Menschen zur Flasche greifen, wie die Kreuzbund-Vorsitzende weiß. „Alkoholiker sind Ja-Sager“, betont die zweifache Mutter.

Alkohol war
ständiger Begleiter

Selbst ging es H. ähnlich. Sie hatte das Gefühl, dass sie „super funktionieren“ müsse, sie sei ständig an der Belastungsgrenze gewesen. Das Trinken sei für sie ein wichtiges Mittel geworden, um abzuschalten. Dass sich daraus eine Sucht entwickelt habe, sei „ein langer Prozess“ gewesen. „Der Alkohol war mein Begleiter, ein langjähriger Freund. Es ist eine legale Substanz, die entspannt, müde macht“, erinnert sie sich. Gleichzeitig sei man locker und traue sich mehr.

Das Trinken habe sich bei ihr über längere Zeit eingeschlichen. Freitagabends wollte sie sich etwas gönnen, „eine besondere Spirituose, Martini oder eine Flasche Sekt“, erzählt sie. So sei das „Freitagsflascherl“ zur Gewohnheit geworden. Ständig habe sie sich mit Alkohol beschäftigt, damit, ihn zu beschaffen und zu trinken, sodass es keiner mitbekommt, weder ihr Mann, noch ihre Kinder. „Es war unglaublich anstrengend“, erzählt sie. Sie erinnert sich auch noch gut an ihre eigene Hochzeit. „Ich hatte Angst vor der Feier, dass ich es mit dem Trinken übertreibe und jemand etwas bemerkt, meine ganze Familie war ja dabei“, erklärt sie heute ihre Sorge von damals.

Der Schlüsselmoment für die Stephanskirchenerin: „Mein Mann und ich waren auf dem Weg in den Urlaub. Ich saß auf dem Rücksitz und bin einfach umgekippt“, berichtet sie. Erst im Krankenhaus habe ihr Partner erfahren, dass sie alkoholisiert gewesen sei. „Ich bin in der Klinik wieder aufgewacht, da hat er mich direkt gefragt: Sag mal, trinkst du?“, berichtet sie. „Bis dahin hatte er nichts bemerkt.“

Entzug
und Therapie

Die zweifache Mutter machte einen Entzug und eine ambulante Therapie. „Ich habe es geschafft, aus alten Mustern auszubrechen und mich mit mir selbst und anderen auseinanderzusetzen, ohne zur Flasche zu greifen“, erzählt die Stephanskirchenerin. Alkohol sei für sie ein Hilfsmittel gewesen, um in einer „Friede-Freude-Eierkuchen-Welt“ leben zu können. Sie habe lernen müssen, Nein zu sagen, sich abzugrenzen, Erwartungshaltungen anderer Menschen nicht einzuhalten. Sie sei in die Konfrontation gegangen, „ohne alles herunterzuspülen“. Trotzdem sei ihre Alkoholkrankheit nicht spurlos an ihrer Familie vorbeigegangen.

Die Sucht sei eine große Herausforderung für die Angehörigen. „Für meinen Mann war es ein wahnsinniger Vertrauensverlust“, erklärt sie. Er habe sie ständig kontrolliert. „Wir sind nur noch gemeinsam zum Einkaufen gefahren, er hat die Schränke nach Spirituosen durchsucht“, sagt sie. „Es war eine schwere Zeit, aber notwendig“, wie H. heute weiß. Denn nur dadurch, dass sie ihren persönlichen Tiefpunkt erreicht habe, habe sie eingesehen, dass sie Hilfe brauche.

Mehrere Jahre nach dem Vorfall im Urlaub blieb H. trocken, bis zu einem Ereignis auf einer Geburtstagsfeier. „Ich habe vergessen, dass ich krank bin und ein Glas Wein getrunken“, gesteht sie. Hinterher habe sie eine Zeit lang versucht, den Alkohol kontrolliert zu konsumieren, „aber das war schnell vorbei.“ Die Sucht holte sie wieder ein. Heimlich fing sie wieder an zu trinken. Dieses Verhalten habe sie bei Frauen oft erlebt. „Sie trinken geheim“, weiß die Vorsitzende.

Rückfälle sind
keine Schande

So führte H.s Weg erneut in die Therapie und zur Kreuzbundgruppe in Wasserburg, bei der sie seit 2023 den Vorsitz übernommen hat. Um trocken zu bleiben, ruft sie sich nach eigenen Angaben immer wieder ins Gedächtnis, dass sie alkoholkrank ist. „Man vergisst einfach zu schnell“, betont sie. Die Vorsitzende weiß aber auch: „Rückfälle sind keine Schande. Das passiert eben.“ In der Kreuzbundgruppe würden solche Vorfälle besprochen. „Es wird niemand verurteilt.“ Nicht nur das Trinken werde dort thematisiert. „Wir sprechen eigentlich über alles, über Dinge, die uns beschäftigen, das Leben“, sagt H. Denn der Alkohol sei oftmals nur das Mittel zum Zweck, um Probleme wegzutrinken, wie die Vorsitzende aus Erfahrung weiß.

Und noch einen Aspekt gebe es rund um das Thema Alkohol: „Trinken ist gesellschaftlich akzeptiert. Deswegen ist es auch so gefährlich.“

Termine des Kreuzbunds in Wasserburg

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