„24 Stunden in der Enge“ einer Flüchtlingsunterkunft

von Redaktion

„Rott rottiert“ lädt zum Experiment und will „Leid erspürbar machen“ – Experte stellt Projekte dieser Art infrage, sieht BI aber als „sehr konstruktiv“

Rott – Bei der Radltour von Ministerpräsident Markus Söder am Chiemsee hat Günther Hein von der Bürgerinitiative (BI) „Rott rottiert“ die Chance genutzt und Söder die Einladung zum 24-Stunden-Selbstversuch übergeben. Das hatte er zwar schon beim Jubiläumsfest des SV Halfing getan, aber doppelt hält besser. Ob‘s was gebracht hat? Wohl nicht. Den Ministerpräsidenten erwartet natürlich keiner zum Experiment in Rott, ebenso wenig Staatsminister wie Joachim Herrmann oder Hubert Aiwanger, die ebenfalls eingeladen wurden. Überhaupt ist die Resonanz auf die Veranstaltung bisher eher mau: Auf die Einladungen gab es vonseiten der Politiker (Stand 24. Juni) nur zwei Reaktionen: Landrat Otto Lederer und Landtagsabgeordneter Sebastian Friesinger sagten laut BI immerhin ab.

24 Stunden auf
engstem Raum

Niemand rechnet ehrlicherweise damit, dass sich Entscheidungsträger auf regionaler Ebene auf das Experiment wirklich einlassen. 24 Stunden sollen sie möglichst realitätsnah miterleben, was es bedeutet, in einer Flüchtlingsunterkunft wie der geplanten Erstaufnahmeeinrichtung in Rott auf engstem Raum untergebracht zu werden. Dafür baut die BI eine Box auf, die die räumliche Situation simuliert: Sechs Personen in drei Doppelstockbetten auf elf Quadratmetern.

„Die Veranstaltung findet auf jeden Fall statt“, sagt die BI. Sie plant am morgigen Samstag und dem folgenden Sonntag zudem weitere Aktionen, für die Teilnehmende ihr Nachtzeug nicht einpacken müssen: einen runden Tisch am Samstag, einen Orientierungskurs „Alltag in Deutschland“ mit Verfassungsviertelstunde am Sonntag sowie Pressekonferenzen. Bürgermeister Daniel Wendrock wird zwar nicht übernachten, aber morgen vor Ort eine Kurzrede halten.

Ziel soll es laut BI sein, den Verantwortlichen „die psychische Belastung und die traumatisierenden Erfahrungen, die mit der engen Unterbringung verbunden sind, unmittelbar erfahrbar zu machen“. „Enge, Lärm und Unsicherheit über die Zukunft“ könnten für Schutzsuchende noch belastender sein als für nicht Betroffene. Diese Bedingungen könnten Konflikte fördern und das psychische Wohlbefinden beeinträchtigen. „Wir möchten den Entscheidungsträgern einen Einblick geben, wie sich diese Zustände anfühlen“, erklärt ein Sprecher der Bürgerinitiative. „Nur wer die Realität kennt, kann nachhaltige Veränderungen bewirken. Es geht darum, gemeinsam nach Lösungen zu suchen, die sowohl den Schutzsuchenden als auch der ansässigen Bevölkerung gerecht werden.“ Deshalb wiederholt die BI ihren Appell an die Verantwortlichen, keine großen Unterkünfte in kleinen Dörfern zu schaffen. Eine menschenunwürdige Unterbringung sei keine Option, sondern eine Verpflichtung.

Das Landratsamt Rosenheim sieht die Veranstaltung kritisch. „Es besteht die Befürchtung, dass mit dieser Aktion ein falsches Bild für die anstehende Unterbringung in der Ankommenseinrichtung in Rott vermittelt werden kann“, nimmt die Behörde auf Anfrage Stellung. Die in Rott unterzubringenden Personen würden zwar in 12,25 bis 19,25 Quadratmeter großen Abteilen schlafen, könnten und dürften sich aber natürlich innerhalb und außerhalb des Gebäudes frei bewegen. Zudem handele es sich bei den mit maximal sechs oder acht Betten eingerichteten Abteilen lediglich um eine Maximalbelegung. „Die Auslastung der vergangenen Jahre in den beiden derzeit noch in Betrieb befindlichen Turnhallen mit einer Gesamtbettenkapazität von 506 Plätzen hat jedoch gezeigt, dass noch nie mehr als zwei Drittel der Bettenkapazitäten benötigt wurden.“

In der 3000 Quadratmeter umfassenden Immobilie in Rott sollen laut Landratsamt maximal 270 Personen für einige Wochen untergebracht werden, sodass der pro Person verfügbare Wohnraum deutlich über den von der BI kommunizierten 1,8 Quadratmetern liege und auch deutlich über denen in den beiden Turnhallen. Hinzu komme, dass die Einrichtung in Rott über mehrere abgetrennte Räume verfüge. Der Landrat sehe die Unterbringung zwar nicht als ideal an, diese entspreche aber den gesetzlichen Vorgaben und sei weit entfernt vom Vorwurf einer menschenunwürdigen Unterbringung.

„Das Landratsamt und die Regierung von Oberbayern setzen für Rott keine anderen Maßstäbe, Normen und Prinzipien an, als dies andernorts der Fall wäre. Die Planungen erfolgen regelkonform und getreu den Bundes- und Landesgesetzen“, so die Pressestelle.

Das stellt die BI auch nicht infrage. Sie möchte jedoch für die Problematik großer Unterkünfte sensibilisieren. Ist ein Experiment dieser Art die passende Form? Florian Wenzel, renommierter Trainer für politische Bildung aus der Region, findet, das „Experiment“ sei ein Ansatz, den es durchaus in der politischen Bildung gebe. Bei der Frage, wie Menschen erreicht werden könnten, werde immer wieder selbstkritisch festgestellt, dass Dialog und abstrakte Empathie nicht ausreichen und nicht zu Handlungsänderungen führen würden. Deswegen gebe es seit Langem immer wieder aktionsorientierte Formate. Nur so, sei die Begründung, ließe sich wirklich emotional und auch körperlich nachvollziehen, was es bedeute, Betroffener zu sein.

Trainer für politische
Bildung hat Fragen

Aus seiner Sicht und Haltung als Trainer für politische Bildung seien solche Ansätze jedoch fragwürdig, „da sie zwar bestehende Missstände und Leid erspürbar machen, aber teils mit Überwältigung arbeiten“. Zudem ständen sie in der Gefahr, als „extremes Abenteuer“ gesehen zu werden, da selbstverständlich klar sei, dass das Erlebnis sehr kurz und enden werde. Die Teilnehmer würden sich eher als Helden fühlen, die etwas durchgestanden hätten, „was natürlich der Situation real Betroffener in keiner Weise entspricht“.

„Nicht zuletzt arbeiten solche Experimente oft mit einer fragwürdigen Moral und einem impliziten Vorwurf des Rassismus, da sie wie in diesem Fall handelnde Politiker allein verantwortlich machen und nicht die strukturelle Verflochtenheit, Widersprüche und Dilemmata unserer Gesellschaft insgesamt sehen“, warnt Wenzel. „Vermutlich gibt es ja kaum Personen, die absichtsvoll Asylsuchende in solche Wohnsituationen bringen möchten.“

Wenn, wie zu vermuten sei, an der Vorbereitung und Konzeption des Experiments keine Flüchtlinge selbst beteiligt würden, sei auch das problematisch. Dann würde die deutsche Mehrheitsgesellschaft ihre Vorstellungen von Wohnen beziehungsweise deren Missachtung im Namen von Geflüchteten nachvollziehen lassen. Für Geflüchtete selbst seien zumindest in Teilen vielleicht „andere Aspekte wie Einbettung in die Gemeinschaft, Sinnerfüllung und Akzeptanz“ wichtiger. „Insofern gibt es zahlreiche Fallstricke und es kommt sehr darauf an, wie professionell ein solches Experiment eingeführt, begleitet und auch reflektiert wird“, sagt Wenzel. Er habe die BI aber bisher mit ihrer „klaren Benennung der Probleme und mit ihrer klaren und harten Abgrenzung nach rechts und Ablehnung jeglicher Vereinnahmung“ als „sehr konstruktiv“ erlebt, im Vergleich zu anderen Initiativen.Heike Duczek

Artikel 7 von 11