Münster – Es ist ein bewegendes Bild. Mitarbeiter der Gaststätte „Großer Kiepenkerl“ legen am Sonntag Blumen nieder und stellen eine Kerze auf. Einige weinen und nehmen sich in den Arm. Neben ihnen ragt der bronzene Kiepenkerl auf, ein Wahrzeichen Münsters. Seit diesem Samstag steht die Figur des fahrenden Händlers nicht mehr nur für westfälische Folklore, sondern auch für eine tödliche Amokfahrt. Unmittelbar vor dem Standbild hat ein Mann einen Campingbus in eine Menschenmenge gesteuert. Zwei Menschen wurden getötet. Der Täter hat sich anschließend erschossen. Bei den Todesopfern handelt es sich um eine 51-jährige Frau aus dem Kreis Lüneburg und einen 65-jährigen Mann aus dem Kreis Borken. In der Uniklinik gab es außerdem mehrere Notoperationen. Mindestens drei der mehr als 20 Verletzten schwebten zunächst weiter in Lebensgefahr.
Wenn man einen Ort auswählen müsste, der die Essenz gutbürgerlicher deutscher Gemütlichkeit vermittelt, dann könnte das der Platz am Kiepenkerl sein. Wie an einer Perlenkette reihen sich hier die Giebelhäuser auf. Etwas weiter geht die Straße in den Prinzipalmarkt über, „Münsters gute Stube“.
Rückblende: der Platz vor dem Kiepenkerl-Standbild am Samstagnachmittag. Wer draußen noch einen Platz ergattert hat, kann sich glücklich schätzen. Es ist der erste richtig warme Frühlingstag, alle wollen in der Sonne sitzen. Die Uhr zeigt 15.27 Uhr – Kaffee-und-Kuchen-Zeit – als es passiert. Für die Menschen auf dem Platz muss es gekommen sein wie ein Meteoriteneinschlag.
Handy-Fotos vom Tatort: Der silberfarbene Campingbus steht zwischen Stühlen und Tischen, Menschen helfen sich vom Boden auf. Der Horror in der guten Stube. „Erste Bilder und Nachrichten aus Münster brechen mir das Herz“, twittert Jan Josef Liefers, der Professor Boerne aus dem Münster-„Tatort“. Die Stadt sei „einer der friedlichsten und freundlichsten Orte“, die er kenne, sagt er.
Unmittelbar nach der Tat denken viele an einen islamistischen Terroranschlag. Die Bilder aus Nizza, Berlin und London haben sich eingebrannt. Dort und an anderen Orten waren islamistische Attentäter mit Fahrzeugen in Menschenmengen gerast. Doch noch am Samstag wird klar, dass es sich bei dem Täter wohl nicht um einen Terroristen handelt. Es gebe „keinerlei Hinweise auf einen politischen Hintergrund“, bestätigt Polizeipräsident Hajo Kuhlisch. Man gehe von der Tat eines Einzeltäters aus, sagte eine Polizeisprecherin. Der Täter ist ein 48-jähriger, gebürtigen Sauerländer, der in Münster wohnte. Er soll psychische Probleme gehabt haben. Zudem litt er unter schweren Rückenschmerzen, für die er andere verantwortlich machte.
Es hat auf jeden Fall etwas Verstörendes, dass jemand nur ein schweres Verbrechen begehen muss, und schon ist ihm binnen Minuten weltweite Aufmerksamkeit sicher. Eben darum, so sagen Psychologen, gehe es manchen Menschen, die einen „erweiterten Suizid“ begehen. Sie wollen andere mit in den Tod reißen, um ihr Leben nicht dort zu beenden, wo sie es geführt haben: am Rand der Gesellschaft. Münster ist am Samstag jedenfalls schlagartig Top News. Donald Trump bete für die Opfer, teilt das Weiße Haus mit.
Erschütterung, Trauer und Fassungslosigkeit sind die vorherrschenden Gefühle nach der Tat. Münster, so erzählt ein Student, sei im Grunde ein Dorf. Niemals habe er geglaubt, dass hier so etwas geschehen könne. Dabei war das Thema Sicherheit in letzter Zeit durchaus präsent: Im Mai ist die 300 000-Einwohner-Stadt Schauplatz des Katholikentags mit vielen tausend Besuchern. Der Schlossplatz, auf dem die Großveranstaltungen stattfinden, soll dafür mit Pollern gegen Lastwagen geschützt werden. Für die engen Altstadtgassen allerdings gibt es keine solchen Planungen.
Aus Münster kommen an diesem Wochenende aber auch Bilder der Mitmenschlichkeit. Vor der Uniklinik steht eine lange Schlange wartender Menschen – sie alle folgen einem Aufruf zum Blutspenden. „Beispiellos“, sagt eine Kliniksprecherin.
Ministerpräsident Laschet kontrastiert das Verhalten dieser Menschen am Sonntag mit jenen, die kurz nach der Tat schon wieder Flüchtlinge und Muslime am Werk sahen: „Ich würd’ mir wünschen, dass diese Besonnenheit, die die Menschen in Münster ausgestrahlt haben, auch die Solidarität beispielsweise beim Blutspenden (…), wenn diese besondere Münsteraner Erfahrung einer Friedensstadt auch alle die erreicht hätte, die gestern ganz schnell bei Twitter und anderswo wieder das Hetzen begonnen haben.“ Wie kann eine Stadt den Schock nach einem solchen Verbrechen verkraften? Vielleicht am besten, indem sie still gedenkt und dann genauso weiterlebt wie vorher. „Münster, bleib wie Du warst“, schreibt „Tatort“-Kommissar Axel Prahl auf Facebook, „und wie wir Dich lieben: offen, friedlich, freundlich, stark und stolz“.
In Cottbus wird ein Mann verdächtigt, mit seinem Geländewagen auch in eine Menschengruppe gefahren zu sein. Doch er schweigt. Zwei Passanten sind dabei verletzt worden, aber nicht schwer. Einen Zusammenhang mit der Amokfahrt von Münster gibt es wohl nicht.