Rom – Allerseelen, Halloween: Tage der Toten und der Geister. Gespenster der Vergangenheit sind nun unversehens in Rom ans Tageslicht gekommen. In einem Nobelviertel hinter Palmen und Pinien versteckt und von hohen Mauern umgeben, liegt das herrschaftliche Anwesen, das die Apostolische Nuntiatur bei der Republik Italien beherbergt. Als Botschaft des Heiligen Stuhls ist die „Villa Georgina“ exterritoriales Staatsgebiet des Vatikans. Bei Renovierungsarbeiten kam unter dem Pflaster einer Terrasse jetzt ein schauriger Fund zu Tage: Die Skelette zweier Personen. So ungewöhnlich das auf den ersten Blick sein mag – in der Ewigen Stadt, unter der sich eine Millionenmetropole der Antike befindet, ist das keine Seltenheit. Ob es düstere Vorahnungen waren oder schlicht Routine: In der Nuntiatur hielt man es für angebracht, umgehend die italienische Polizei zu verständigen.
Der römische Oberstaatsanwalt, so das vatikanische Presseamt, habe daraufhin die Spurensicherung beauftragt, die Überreste zu exhumieren, Alter und Geschlecht festzustellen sowie den möglichen Todeszeitpunkt zu bestimmen. In den italienischen Medien wurde sofort vermutet, die Untersuchung solle auch prüfen, ob die Knochenfunde mit dem Fall der vor 35 Jahren verschwundenen Emanuela Orlandi in Verbindung stehen.
Rückblende: An einem Junitag 1983 kehrte die die damals 15-jährige Emanuela, Tochter eines päpstlichen Leibdieners, nicht nach Hause zurück. Bald meldeten sich angebliche Entführer, die eine Freilassung des türkischen Papstattentäters Ali Agca forderten. Die italienische Justiz blieb hart, Agca – der im Mai 1981 Papst Johannes Paul II. um ein Haar auf dem Petersplatz getötet hätte – im Gefängnis.
Später gab es Gerüchte, das Mädchen sei von der Mafia entführt, kurze Zeit später getötet und einbetoniert worden. Damals tobte ein unerbittlicher Krieg zwischen dem Staat und der Cosa Nostra. Der polnische Pontifex hatte die Mafia immer wieder gegeißelt. Auch eine Spur zum Skandalstrudel rund um die Vatikanbank IOR wurde zeitweise verfolgt. Im gleichen Zeitraum verschwand die Tochter eines weiteren Vatikanangestellten, Mirella Gregori. Wurde der Vatikan erpresst?
Die meisten Hinweise, die auch von externen Quellen gestützt werden, gehen hingegen in eine Richtung: das Attentat auf Johannes Paul II. Schon damals führten die Ermittlungen der italienischen Justiz in Richtung östlicher Geheimdienste. Nach dieser Theorie wurde Agca vom bulgarischen Geheimdienst gedungen, logistisch unterstützt von der DDR-Stasi. Undenkbar, dass eine so hochbrisante Aktion nicht von Moskau abgesegnet oder gar beauftragt worden ist. Der Papst aus Polen, auf den sich. „Solidarnosc“ berief, war für den Kreml zur realen politischen Gefahr geworden.
In den Monaten nach dem mysteriösen Verschwinden von Emanuela Orlandi habe es, so weiß der einstige Vatikansprecher Federico Lombardi zu berichten, intensive Versuche gegeben, den in Isolationshaft sitzenden Papst-Attentäter Ali Agca freizupressen. Die Entführer meldeten sich telefonisch regelmäßig im Vatikan, man kommunizierte über eine gesonderte Telefonleitung. Auch habe der französische Geheimdienst in jener Zeit mehrfach gewarnt, dass es Pläne zur Entführung weiterer Kinder von Mitarbeitern aus der engsten Umgebung des Papstes gäbe. An dieser Stelle wurde aus dem Kriminalfall Emanuela Orlandi ein Politthriller, der – sei es aus diplomatischen Rücksichten oder finsteren Interessen – bis dato nie gelöst wurde. 2015 schlossen die italienischen Behörden nach jahrzehntelangen, erfolglosen Recherchen die Akte endgültig.
Mit der Bergung der Skelette in der Nuntiatur könnte neues Licht ins Dunkel kommen. Ein Detail konnte die römische Staatsanwaltschaft immerhin schon bekannt geben: Bei einer Person handelt es sich tatsächlich um die Gebeine einer Frau. Die DNA-Tests werden indes noch ein paar Tage dauern. Die Familie Orlandi erhofft sich dann endlich Gewissheit.