Die Worte zeugen von ehrlicher Zerknirschung. „Dieses Haus ist erschüttert. Uns ist das Schlimmste passiert, was einer Redaktion passieren kann. Wir hatten über Jahre Reportagen und andere Texte im Blatt, die nicht die Wirklichkeit abbildeten, sondern in Teilen erfunden waren“, schreiben die stellvertretenden „Spiegel“-Chefredakteure Susanne Beyer und Dirk Kurbjuweit in der „Hausmitteilung“ zur an diesem Samstag erscheinenden Ausgabe des Nachrichtenmagazins. Der „Spiegel“ widmet dem Skandal um die gefälschten Texte ihres Ex-Mitarbeiters Claas Relotius (wir berichteten) sogar die Titelgeschichte.
Der Kollege habe sich nicht auf seine Recherche verlassen, sondern seine Fantasie eingesetzt, um seine Geschichten besser wirken zu lassen, schreiben Beyer und Kurbjuweit weiter, für einen Journalisten sei das „unverzeihlich“. Allerdings: „Für uns ist aber genauso erschreckend, dass es Relotius so lange gelungen ist, uns zu täuschen.“ Die Sicherungssysteme, auf die man beim „Spiegel“ immer so stolz gewesen sei, hätten versagt.
In welchem Ausmaß der vielfach ausgezeichnete Journalist seine Texte fälschte, zeigt unter anderem die Reportage „In einer kleinen Stadt“ aus dem Jahr 2017. Sie spielt in Fergus Falls, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Minnesota, die typisch sei für das ländliche Amerika, das Donald Trump zum Präsidenten machte. Michele Anderson und Jake Krohn, zwei Einwohner des Ortes, zogen, so berichtet „Spiegel online“, nach der Lektüre des Textes eine vernichtende Bilanz. In der Reportage seien so viele Lügen enthalten, dass sie nur auf die „elf absurdesten“ hinweisen wollten. Unter anderem habe Relotius über einen „Westernabend“ berichtet, der nie stattgefunden habe.
Auch das im August dieses Jahres erschienene, aufsehenerregende Interview mit Traute Lafrenz (99), der letzten Überlebenden der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ um Hans und Sophie Scholl, sei von Relotius verfälscht worden. So habe die in den USA lebende Lafrenz über die ausländerfeindlichen Proteste in Chemnitz samt dort gezeigtem Hitlergruß gesprochen. Sie habe Fotos in der Zeitung gesehen, da sei ihr „ganz kalt geworden“. Tatsächlich, so hat sich nun herausgestellt, habe sie von den Vorfällen in der sächsischen Stadt nichts gewusst.
In das Entsetzen über das Ausmaß des Betrugs mischt sich auch Selbstkritik. Die Luft „ganz oben“ sei dünn. „So manch einer kann da versucht sein, aus Journalismus Literatur zu machen, die in Fiktion mündet“, schreiben Chefredakteur Steffen Klusmann und Vize Kurbjuweit. „Claas Relotius hatte offenbar das Gefühl, unseren Erwartungen nicht gerecht werden zu können mit guten und sehr guten Geschichten. Sie mussten exzellent sein.“ Insofern sehe man in Relotius „nicht einen Feind, sondern einen von uns, der mental in Not geraten ist und dann zu den falschen, grundfalschen Mitteln griff“. Und weiter: „Er hat auch unser Mitgefühl. Er hat betrogen, wir haben uns betrügen lassen.“
Der Fall werfe grundsätzliche Fragen auf, wie etwa Journalist Jörg Tadeusz findet. Er überreichte laut eigenem Bekunden mehrfach Preise an Relotius – und plädiert inzwischen für ein Umdenken. In Deutschland gebe es rund 500 Journalistenpreise: „Ich werde von diesen erst dann wieder einen vergeben, wenn Verkehrspiloten auch für jede zehnte geglückte Landung prämiert werden. Also auch dafür, dass sie lediglich ihren Job machen.“
Für die Offenheit ernten die „Spiegel“-Verantwortlichen Respekt – zum Beispiel vom Deutschen Journalistenverband (DJV). Dass etwas schief gelaufen sei, habe der „Spiegel“ sofort „unumwunden zugegeben“, sagt DJV-Bundesvorsitzender Frank Überall. Nun gelte es, daraus zu lernen. „Das will der ,Spiegel‘ und das wollen wir.“
Noch einen anderen Aspekt bringt DJV-Chef Frank Überall ins Spiel. Dass die Preise immer denselben Branchenvertretern zuerkannt würden, habe vor allem einen Grund: „Weil Reporter von ihrem Arbeitgeber die Möglichkeit bekommen müssen, sich womöglich wochenlang mit nur einem Thema befassen zu können.“ Leider gebe es viel zu wenige Medien, die ihren Mitarbeitern diese Freiräume schaffen. Journalismus als eine Art Zweiklassengesellschaft?
Den Schaden hat nun nicht nur der „Spiegel“, sondern den haben alle Journalisten, die sich um eine angemessene Darstellung von Fakten und Wirklichkeit bemühen. Es werde wohl nicht ausbleiben, „dass die Medienhasser ihrer Wut erneut Luft machen“, so DJV-Sprecher Hendrik Zörner.
Vor zu viel Selbstbetroffenheit warnt Tadeusz: „Die dümmlichen Verschwörungstheorien von Rechtspopulisten von der zentral gelenkten Journaille gönnen uns eine Opferhaltung, in der wir vor jeder berechtigten Kritik in Sicherheit sind.“ Frank Überall rät: „Wir Journalisten und die Chefs der Medienhäuser müssen das tun, was auch schon vor dem Fall Relotius angesagt war und getan wurde – Transparenz herstellen, über unseren Beruf informieren, Fragen beantworten. Und uns nicht beirren lassen von Shitstorms.“
So oder so soll der Fall umfassend aufgearbeitet werden. Und zwar, wie der „Spiegel“ ankündigt, „mit Demut“.