Boeing-Chef macht Piloten zu Sündenböcken

von Redaktion

Trotz erdrückender Indizien: US-Konzern will keine Schuld an den 737 MAX-Abstürzen einräumen

Washington/Chicago – Am Dienstag meldete der Sender CNN nach wochenlangen Recherchen: Ein Sensor, der ebenso wie eine vielen Piloten nicht bekannte neue Steuerungs-Software wesentlich zum Absturz von zwei Boeing-Passagierjets des Typs 737 MAX mit 346 Toten beigetragen haben soll, war aufgrund von wiederkehrenden Störungen insgesamt 216 Mal von Cockpit-Crews an die US-Flugaufsicht FAA gemeldet worden. Dennoch wurde der Sensor-Hersteller United Technologies weder von der FAA noch Boeing gezwungen, das wichtige Teil – das den Steigwinkel des Jets weitermeldet – zu überarbeiten und sicherer zu machen. Und: Boeing soll kein einziges Mal ein Szenario getestet haben, bei dem der Sensor falsche Daten an den Bordcomputer sendet und dieser dann die Nase des Flugzeugs nach unten drückt.

Diese spektakuläre Enthüllung kam nur 24 Stunden, nachdem sich Boeing-Konzernchef Dennis Muilenburg bei einer Versammlung von Aktionären und danach gegenüber Reportern geweigert hatte, auch nur geringste Schuldeingeständnisse mit Blick auf die Problem-Sensoren, die umstrittene neue Steuerungssoftware MCAS und die restriktive Informationspolitik des Konzern zu machen. Stattdessen hatte Muilenburg, der weiter auch aufgrund seiner engen Freundschaft mit US-Präsident Donald Trump fest im Sattel zu sitzen scheint, indirekt Piloten eine Schuld an den Abstürzen der Lion Air- und Ethiopian Airlines-Jets gegeben. Das MCAS-System, das bei den 737 MAX-Maschinen den gefürchteten Strömungsabriss („Stall“) verhindern soll und dabei von den Daten des so störungsanfälligen Sensors gefüttert wird, sei kein „separates System, für das trainiert werden muß“. Es sei vielmehr „in die Handlungs-Qualitäten des Flugzeugs fundamental eingebettet“, so Muilenburg. Er versuchte damit auch zu erklären, warum Boeing die Airlines nicht umfassend über MCAS bei der 737 MAX-Markteinführung informiert hatte.

Was der Boeing-CEO – der angesichts von kritischen Zusatzfragen von Journalisten eiligst die Bühne verließ – mit diesen wolkig formulierten Sätzen verschwieg, waren allerdings jede Menge entscheidender Fakten. Zum einen hatten zahlreiche Piloten beklagt, über die Installation des MCAS-Systems nicht zeitnah von Boeing informiert worden zu sein. Die Existenz der neuen Software kam erst nach dem Absturz der indonesischen Lion Air-Maschine im Oktober letzten Jahres an die Öffentlichkeit. Ganz ins Scheinwerferlicht rückte MCAS dann im März diesen Jahres, nachdem Ethiopian Airlines Flug 302 sechs Minuten nach dem Start zerschellt war und die Besatzung bisherigen Erkenntnissen zufolge verzweifelt versucht hatte, eine Lösung für die mit falschen Sensorendaten handelnde Steuerung zu finden, die die Nase immer wieder nach unten drückte. Am Ende verloren sie den Kampf gegen eine Technik, die sich scheinbar verselbstständigt hatte.

Zum anderen wird zu einem zentralen Thema, dass Boeing trotz der störanfälligen Sensoren an der Außenhaut der 737 MAX-Jets kein redundantes System eingebaut hatte, das diese dem Hersteller durch die FAA-Meldungen gut bekannten häufigen Fehler kompensierte. Ein Warnsystem für Piloten, das zumindest auf falsche – nicht übereinstimmende – Daten der Steigwinkel-Sensoren an der Nase der Jets hinweisen sollte, wurde zudem nur gegen Aufpreis als „Extra“ angeboten, während es bei den 737-Modellen vor dem MAX-Upgrade noch zum Standard zählte. Und wenn es von Airlines mitbestellt wurde, arbeitete es – so berichtete das „Wall Street Journal“ jetzt – aufgrund eines Software-Fehlers fast immer nicht wie vorgesehen. Dies räumte kurz nach der Enthüllung der Zeitung nun auch Boeing ein. Was wiederum das vor zwei Jahren durchgeführte Zertifizierungssystem der Flugbehörde FAA, das Konzernchef Muilenburg am Montag als angeblichen Beweis für die Schuldlosigkeit des Herstellers angeführt hatte, erneut in Frage stellt.

Hinzu kommt, dass die FAA Insiderberichten zufolge Boeing-Technikern wichtige Prüfaufgaben übertragen hatte, weil sich die staatlichen Gutachter mit der komplexen Thematik überfordert fühlten. Ein Skandal, der offensichtlich zur derzeitigen Vertrauenskrise beim amerikanischen Traditionshersteller beigetragen hat und den nun auch der US-Kongress aufklären will. Auch Boeing-Chef Muilenburg dürfte demnächst zur Anhörung vorgeladen werden.

FRIEDEMANN DIEDERICHS

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