San Francisco – „The Big One“, ein großes Erdbeben wie 1906, sagen die Seismologen der Stadt San Francisco seit Jahren voraus. Der gefürchtete Erdstoß ist überfällig, doch ein enormes Tech-Beben hat in der Westküstenmetropole eine große Kluft aufgerissen. Die Folgen des Technologie-Booms sind in der tief gespaltenen Stadt überall zu sehen.
Obdachlose schieben rostige Einkaufswagen mit wenigen Habseligkeiten über die Market Street, vorbei an den Fassaden der Hauptquartiere von Konzernen wie Twitter und Uber. Mit Steuervergünstigungen lockten die Stadtväter Technologie-Firmen in das Herz von San Francisco, nun schießen Luxus-Appartements und teure Bistros aus dem Boden. San Francisco, ehemals das Epizentrum der Hippie-Bewegung, Magnet für Künstler, Aussteiger und Einwanderer, steht nun für junge Multi-Millionäre, explodierende Mieten und steigende Obdachlosenzahlen.
Im weltweiten Vergleich ist San Francisco jetzt die Stadt mit der höchsten Milliardärsdichte. Der jüngsten Studie von „Wealth-X“ zufolge kommt auf gut 11 000 Einwohner ein Superreicher, im Vergleich fällt New York mit rund 81 000 Menschen pro Milliardär weit ab. In San Francisco und dem benachbarten Silicon Valley, mit Facebook, Google und Apple, wächst mit jedem Börsengang die Zahl der Millionäre weiter an.
Der in San Francisco aufgewachsene Makler Herman Chan klagt, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in seiner Heimatstadt immer größer wird. „San Francisco hat seine Seele verloren“, lamentiert er. „Wir haben nun die teuersten Mieten in den USA, die größte Obdachlosigkeit und die höchste soziale Ungleichheit“, sagt Leslie Dreyer.
Die Aktivistin arbeitet beim Mieterschutzverband Housing Rights Committee, nur wenige Straßen und doch Welten von den Tech-Konzernen auf Market Street entfernt. Mieter, die von Räumungen bedroht sind, suchen hier Hilfe. „Wir haben extrem viel zu tun“, sagt Dreyer. Das Team hilft bei Zwangsräumungen, es organisiert Proteste, übt Druck auf die Stadt aus, bezahlbare Unterkünfte zu schaffen. „Es betrifft nun auch die Mittelklasse, wie Lehrer und Krankenschwestern. Spekulanten verdreifachen die Mieten und vertreiben Leute aus ihren Wohnungen“, klagt Dreyer. Mehr als 8000 Menschen in San Francisco haben kein festes Dach über dem Kopf, ein 17-prozentiger Anstieg in zwei Jahren. Drastisch zugenommen hat auch die Zahl der Bedürftigen, die in ihren Autos schlafen.
Fast zwei Dutzend Menschen leben in einer Zeltstadt an Rand einer viel befahrenen Durchgangsstraße in Berkeley, auf der anderen Seite der Bucht von San Francisco. Rund 300 Millionen Dollar gibt San Francisco jährlich zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit aus, doch die Betten in den Notunterkünften reichen nicht aus. „Grausam und unmenschlich“ seien die Zustände in den Straßen von San Francisco, wo etwa Menschen in Zelten Hilfe verwehrt würde, hieß es im Oktober in einem Bericht der Vereinten Nationen. Die Zeltlager wurden mit Slums in Indien und Mexiko verglichen.
Die reichen Tech-Konzerne, die zu der extremen Ungleichheit beitragen, sollen zur Kasse gebeten werden, fordern Aktivisten. Der Milliardär Marc Benioff ist auf ihrer Seite. Die Armut in seiner Heimatstadt San Francisco sei eine Katastrophe, sagte Benioff im Januar in einem Interview auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Einige Technologie-Bosse würden die Probleme der Gentrifizierung und Obdachlosigkeit einfach ignorieren.
Im Herbst stellte sich der Unternehmer hinter das Wählerreferendum „Proposition C“, große Tech-Firmen mit Sitz in San Francisco höher zu besteuern und das Geld in Sozialprogramme zu stecken. Frustrierte Wähler, für die das Leben in der Westküstenmetropole unerschwinglich wird, stimmten mit großer Mehrheit für die Sondersteuer.