Dortmund – Ausgelassene Stimmung, Tanz – und dann plötzlich Stille: Vor Beginn eines großen Open-Air-Konzerts mit Adel Tawil in der Dortmunder Innenstadt halten am letzten Abend des evangelischen Kirchentages mehr als 15 000 Menschen auf dem überfüllten Hansaplatz fünf Minuten schweigend inne und gedenken der im Mittelmeer ertrunkenen Bootsflüchtlinge. Banner mit den Namen zehntausender Opfer wurden kurz zuvor in einem Trauermarsch zur Reinoldikirche, dem Dortmunder Wahrzeichen, getragen und dort unter Glockengeläut am Turm hochgezogen. Der Kirchentag legt den Finger in eine offene Wunde Europas.
Von Skandal und einer Schande für die europäischen Staaten ist in Dortmund mehrfach die Rede, von Todesbooten in einem Tränenmeer, von einem Friedhof der Menschenrechte. „Europa verliert seine Seele, wenn wir so weitermachen“, mahnt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm. „Europa darf nicht töten, auch nicht durch unterlassene Hilfeleistung“, sagt Kirchentagspräsident Hans Leyendecker und spricht von einem Verbrechen: „Man lässt zur Abschreckung die Flüchtlingsboote untergehen und die Flüchtlinge ertrinken.“
Auf der Flucht vor Krieg, Terror und Not seien allein in den vergangenen fünf Jahren 18 000 Menschen zwischen Afrika und Europa ums Leben gekommen, 500 Tote seien es bereits in diesem Jahr.
Scharf fiel auch die Kritik an der Kriminalisierung von Seenotrettern aus. Nicht diejenigen Menschen müssten sich rechtfertigen, „die im Moment als einzige überhaupt noch Leben retten, sondern diejenigen, die es verhindern“, verlangte Bedford-Strohm. Teilnehmer des Kirchentages forderten die EKD in einer Resolution auf, ein eigenes Schiff zur Seenotrettung ins Mittelmeer zu schicken. INGO LEHNICK