Was es bedeutet, 100 Jahre alt zu werden

von Redaktion

Heute ist der 100. Geburtstag eine Ausnahme. Doch jedes zweite Kind, das in diesem Jahrtausend geboren wird, könnte Hochrechnungen zufolge so alt werden. Was bedeutet das für den Einzelnen? Unsere Autorin, deren Großmutter am Samstag ihren 100. Geburtstag feierte, hat sich Gedanken gemacht.

VON PIA ROLFS

Frankfurt – In wenigen Tagen ist es 100 Jahre her, dass der Versailler Vertrag unterzeichnet wurde. Meine Oma ist älter. Als sie am 22. Juni 1919 ihren ersten Schrei tat, tagte etwa 50 Kilometer entfernt noch die Weimarer Nationalversammlung. Der Versailler Vertrag ist Geschichte, meine Oma lebt noch – und hat das Glück, ihren 100. Geburtstag zu feiern. Das ist außergewöhnlich, aber keine totale Seltenheit mehr.

Etwa 16 500 Hundertjährige lebten 2017 in Deutschland, diese Altersgruppe wächst stark. Hochrechnungen zufolge hat jedes zweite Kind, das nach dem Jahr 2000 in Deutschland geboren wurde, gute Chancen, seinen 100. Geburtstag zu erreichen. Steigt die Zahl der Hundertjährigen weiter wie bisher, liegt sie 2040 bei 140 000.

Was bedeutet so ein langes Leben?

Natürlich bedeutet es, sehr viel erlebt zu haben, dass geschichtsträchtige Daten auch an eigene prägende Ereignisse erinnern. 1924 war das Jahr, in dem Lenin starb – für meine Oma war es das Todesjahr ihrer Schwester. 1929, als die Weltwirtschaftskrise begann, starb ihre Mutter. 1939, im Jahr des Kriegsbeginns, heiratete sie. Ihre Tochter wurde im Jahr von Stalingrad geboren, ihr Sohn einen Tag vor dem Beginn der Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg. Sie erlebte harte Jahre in der DDR, floh mit Mann, Kindern und Hund in den Westen. Ihr Mann starb früh, vor drei Jahren ihr Sohn.

Gelassenheit entwickeln

Ein schweres Leben? Sie sieht das nicht so. „Es waren manchmal harte Zeiten, aber ich hatte immer nette Menschen um mich“, sagte sie an ihrem 99. Geburtstag, „Ich habe viel Glück gehabt.“

Ohne dass meine Großmutter das moderne Wort Resilienz kennt, hat sie also eine Art Widerstandskraft gegen Schicksalsschläge entwickelt. Dass das zu einem langen Leben beitragen kann, hat auch der Autor Rei Gesing festgestellt, der für sein Buch „Ihre Weisheit, unser Glück – Die Quintessenzen der Methusalems“ mit 35 Hochbetagten gesprochen hat. „Viele haben verstanden, mit Stress umzugehen und das Leben so zu nehmen, wie es kommt“, beschrieb er in einem Interview mit der Frankfurter Neuen Presse. „Mein Bauchgefühl sagt mir, dass gelassene Menschen älter werden. Ich habe fast nur solche kennengelernt, die zwar persönliche Dramen durchgemacht, aber diese mit Ruhe bewältigt haben.“

Mit der Einstellung und der Lebenssituation von 100-Jährigen haben sich auch die Robert-Bosch-Stiftung und Dietmar-Hopp-Stiftung in zwei Heidelberger Hundertjährigen-Studien beschäftigt. Auch sie stellten fest: 80 Prozent waren der Generation 100plus mit ihrem Leben zufrieden. Die Autoren vermuten: „Möglicherweise haben diejenigen 80- bis 95-Jährigen eine größere Chance, 100 zu werden, die einen optimistischeren Ausblick auf das Leben haben.“ Psychologische Stärken, so glauben sie, spielten eine deutlich wichtigere Rolle als gesundheitliche und soziale Aspekte.

Aber nicht nur der Charakter fördert das Älterwerden, dieser wird umgekehrt auch mit dem Alter sichtbarer. Der Wesenskern des Menschen tritt im hohen Alter immer stärker hervor, hat Rei Geising festgestellt. „Das liegt natürlich daran“, so meint er, „dass so alte Menschen niemandem mehr etwas beweisen müssen.“

Der Radius wird kleiner

Zum Wesen meiner Oma gehören liebevolle Fürsorge und Mitgefühl mit Schwächeren, aber auch Abenteuerlust und Neugier. Sie büxte 1937 von zu Hause aus, ging aus ihrem Dorf in Sachsen-Anhalt in die große Stadt Berlin. Als sie mit erst 49 Jahren Witwe wurde, fing sie noch einmal neu an, lernte Sprachen, machte Reisen, war eine begeisterte Großmutter. Und immer wieder forderte sie mich auf: „Wir müssen etwas Neues anschauen.“

Erst war das Neue ein unbekanntes Land, dann ein Ausflugsziel in der Umgebung, dann ein neues Café in Oldenburg, wo sie seit 50 Jahren wohnt. Das Ziel ihrer Neugier hat sich den Umständen angepasst, die Grundeigenschaft ist geblieben.

Eine Voraussetzung dafür, dass die Persönlichkeit erhalten bleibt, ist allerdings, dass keine Krankheiten wie Alzheimer auftreten. Und diese Gefahr wird mit jedem Jahr größer. Von den über 90-Jährigen leidet jeder Dritte an dieser Krankheit. Doch im Vergleich der beiden Heidelberger-Studien von 2001 und 2013 zeigt sich auch Positives: Die Hundertjährigen 2013 waren körperlich und geistig fitter als die Hundertjährigen 2001.

Allerdings: Wie bei 88 Prozent aller Hundertjährigen ist bei meiner Großmutter das Sehen und Hören eingeschränkt. Daher kann sie nicht mehr kochen, keine Krimis mehr lesen und nicht mehr Radfahren. Für sie, die so gern unabhängig war, ein großer Verlust.

Auch ihr Gedächtnis wird schwächer, aber es schwindet in einer sanften Form, die ihren Wesenskern nicht verändert, sie nur vom Erwachsenen langsam wieder zum Kind macht. Sie kuschelt gern und liebt es, Bücher vorgelesen zu bekommen. Aber sie ist immer fröhlich und gelassen, niemals aggressiv. Das macht es meiner Mutter emotional leicht, sich um sie zu kümmern – obwohl sie selbst schon 77 Jahre alt ist und mit den praktischen Aspekten manchmal überfordert.

Kinder sind selbst alt

Auch das ist kein Einzelfall. In der Hundertjährigen-Studie war für 74 Prozent der Hochbetagten eines ihrer Kinder die Hauptbezugsperson, und diese Kinder sind meist selbst über 70 Jahre alt.

Wenn die mittlere Generation von heute alt wird, wird das anders sein. Viele sind kinderlos, andere haben Kinder, die weit weg wohnen werden. Die individualisierte Gesellschaft fordert ihren Tribut. Wer uns 50-Jährige später pflegt und ob wir das bezahlen können, ist unklar. „Die Unterstützungssituation der heutigen Hundertjährigen – nämlich die Versorgung hauptsächlich über ihre Kinder – wird keine realistische Option für viele zukünftige Hundertjährige sein“, heißt es in der Heidelberger Studie.

Wie lange meine Oma nur mit Hilfe ihrer Tochter zurechtkommen wird, ist unklar. Noch kann sie allein wohnen, sich allein duschen – letzteres können laut Hundertjährigen-Studie nur 13 Prozent ihrer Altersgenossen. Noch ist sie neugierig auf Nachrichten, auf Geschichten, auf Menschen – auch wenn sie vieles davon wieder vergisst. Sie lebt im Moment und genießt ihn. Sie schafft, was wir Jüngeren mit Achtsamkeitstrainings oft vergeblich versuchen.

An jedem Tag freuen

„Heute war so ein schöner Tag“, schwärmte sie neulich. Ich fragte sie, was sie gemacht habe. Sie stutzte. „Das weiß ich nicht mehr genau“, räumte sie ein, „aber es war schön.“ Autor Gesing hat festgestellt: „Viele 100-Jährige erfreuen sich an jedem Tag. Obwohl sie natürlich wissen, dass der Tod jeden Moment kommen kann.“

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