London/Hanoi – Vier Tage nach dem Fund von 39 Leichen in einem Lastwagen in Großbritannien verdichten sich die Hinweise, dass es sich bei einem Großteil der Opfer um Vietnamesen handeln könnte. Die Ermittler hatten zunächst vermutet, dass die Opfer Chinesen seien. Später wurde gemutmaßt, dass die Toten falsche chinesische Pässe bei sich gehabt hätten.
Seit Freitag meldeten mehrere Familien aus dem verarmten Zentrum Vietnams ihre Angehörigen als vermisst. Zahlreiche Angehörige, die um ihre vermissten Familienmitglieder fürchten, besuchten den katholischen Gottesdienst von Phu Xuan. „Wir haben uns hier versammelt, um für alle 39 Opfer zu beten“, sagte Pfarrer Nguyen Duc Vinh. „Wir wissen noch nicht, ob es sich um unsere Kinder handelt.“
Der Vater des vermissten Le Van Ha sagte im Dorf Yen Hoi, er sei sicher, dass sein Sohn unter den Toten sei. Zwei Tage vor dem Leichenfund im englischen Grays habe sein 30-jähriger Sohn ihm geschrieben, er werde nach Großbritannien reisen und die Familie kontaktieren, sobald er angekommen sei. „Wir haben seither nichts von ihm gehört“, sagte der Vater Le Minh Tuan unter Tränen. Le Van Ha verließ im Juni seine Frau und die beiden kleinen Söhne und machte sich über die Türkei, Griechenland und Frankreich auf den Weg nach Großbritannien. Er habe den Schleppern 30 000 Dollar (33 000 Euro) gezahlt. „Er wollte die Schulden zurückzahlen und das Geld seinen Kindern schicken, damit sie ein besseres Leben haben“, sagte der Vater,
Nguyen Dinh Gia, ein anderer Angehöriger, sagte, er habe vor einigen Tagen einen Anruf von einem Vietnamesen erhalten, der ihn über den Tod seines Sohnes auf dem Weg nach Großbritannien informiert habe. Der Mann habe ihn um „Verständnis“ gebeten und gesagt, dass etwas „Unerwartetes passiert“ sei. Nguyen erzählte, sein 20-jähriger Sohn habe sich seit 2018 illegal in Frankreich aufgehalten und habe für rund 12 600 Euro nach Großbritannien weiterreisen wollen, um dort in einem Nagelstudio zu arbeiten. Nguyen bat die vietnamesischen Behörden um Hilfe bei der Identifizierung seines Sohns.
Laut VNExpress haben sich mehr als ein Dutzend vietnamesische Familien zu Wort gemeldet, die Angehörige unter den Opfern befürchten. Diese könnten nach eigenen Angaben ihre Kinder seit dem 23. Oktober nicht mehr kontaktieren. Die britische Organisation VietHome erklärte, sie habe Fotos von etwa 20 Vietnamesen im Alter von 15 bis 45 Jahren erhalten, die seit dem Fund der Leichen nahe London vermisst würden.
Am Freitag hatte bereits Pham Manh Cuong berichtet, dass seine Schwester unter den Toten sein könnte. Nach seinen Angaben war die 26-Jährige Anfang Oktober aus Vietnam nach Großbritannien aufgebrochen. Am Dienstagabend habe sie dann ihrer Mutter eine verzweifelte SMS geschickt. „Es tut mir leid, Mama. Mein Weg ins Ausland hat keinen Erfolg. Mama, ich liebe dich so sehr! Ich sterbe, weil ich nicht atmen kann.“
Britischen Angaben zufolge befinden sich alle Opfer zur Identifizierung im Krankenhaus. Die Ermittler rechnen mit einem langwierigen Prozess, da sie davon ausgehen, dass die Opfer nicht registriert waren. Die Identifizierung der Leichen wird möglicherweise auch dadurch erschwert, dass Verwandte der Opfer illegal in Großbritannien leben und Angst haben, sich zu melden. Martin Passmore von der Polizei Essex sicherte zu, niemand werde verfolgt, der sich an die Polizei wende.
Der aus Nordirland stammende Lkw-Fahrer wurde festgenommen, er soll heute vor Gericht erscheinen. Dem 25-Jährigen werden Totschlag, Verschwörung zum Menschenhandel und Geldwäsche zur Last gelegt. Ein weiterer 48-jähriger Nordire wurde in Dublin festgenommen. Drei Verdächtige kamen hingegen nach Angaben der Polizei gestern gegen Kaution wieder frei. Unter ihnen waren ein 46-jähriger Nordire sowie eine 38-jährige Frau und ihr Ehemann. Das Paar war wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und Verschwörung zum Menschenhandel in Gewahrsam genommen worden, wies die Vorwürfe aber zurück. Die 38-Jährige soll Besitzerin des Lkw gewesen sein.
Die Zugmaschine des Lastwagens, in dem die Leichen östlich von London in dem Ort Grays (Grafschaft Essex) gefunden worden waren, war aus Irland gekommen. Der Auflieger kam über den belgischen Hafen Zeebrugge nach England – per Schiff wurde er von Belgien in den Hafen Purfleet gebracht. Auch Tage nach dem grausigen Fund in der Nacht zum Mittwoch war unklar, wann und wo die Menschen in den Lkw gelangten. Zudem gehen Ermittler Berichten nach, denen zufolge der Lastwagen Teil eines Konvois aus drei Fahrzeugen war, die etwa 100 Menschen transportiert haben sollen.
In Großbritannien ist derweil eine neue Debatte über moderne Sklaverei entbrannt. In dem Report „Precarious Journeys“, der von mehreren Anti-Sklaverei-Organisationen mithilfe des britischen Innenministeriums erarbeitet wurde, wird deutlich, dass von 2009 bis 2018 mindestens 3187 Menschen aus Vietnam als potenzielle Schleuseropfer identifiziert wurden. Die Dunkelziffer liegt nach Einschätzung von Experten höher.