Tunis – Der Aufschrei in Tunesien beginnt mit einer heruntergelassenen Hose. Mitte Oktober, fast genau zwei Jahre nach dem Beginn der #metoo-Bewegung, teilt eine Schülerin mehrere Fotos in den sozialen Netzwerken. Ein älterer Mann mit Schnurrbart sitzt in einem Auto vor einer Schule, die Hose heruntergelassen, die Augen geschlossen. Mutmaßlich masturbiert er. Der Mann wurde erst wenige Tage zuvor als Abgeordneter ins tunesische Parlament gewählt. Er sagt später, er habe in eine Flasche uriniert.
Schnell werden die Fotos auf Twitter und Facebook geteilt. Dazu der Hashtag: #EnaZeda. #metoo in tunesischem Arabisch. In einer Facebook-Gruppe mit gleichem Namen, in der bis heute mehr als 24 000 Menschen Mitglied sind, erzählen vor allem junge Frauen von ihren Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen – im öffentlichen Nahverkehr, oder auch von Vorgesetzten, die .sich allein mit untergebenen Frauen treffen und „Gefälligkeiten“ einfordern.
Als #metoo vor zwei Jahren durch die US-amerikanische Schauspielerin Alyssa Milano immer populärer wird, geht der Hashtag um die Welt. Auf einer visualisierten Weltkugel im Internet kann man sehen, wie der Hashtag überall aufleuchtet und erst die USA, dann Europa und auch Indien zum Glühen bringt. Die arabische Welt blieb bislang aber weitgehend dunkel.
Einerseits spiele die Erziehung in den Familien eine wichtige Rolle, wo schon Mädchen beigebracht werde, lieber den Mund zu halten und nicht aufzubegehren, sagt die Publizistin und muslimische Feministin Sineb El Masrar. „Andererseits haben diese Frauen, die protestieren, viel mehr zu verlieren und sind eigentlich noch mutiger als die Frauen im Westen. Es geht da um existenzielle Bedrohungen“, sagt die in Deutschland lebende Publizistin.
Das Spannende in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas sei es, dass die Frauen die #metoo-Bewegung nicht einfach kopierten, sondern sie nach eigenen Bedürfnissen weiterentwickelten. In den vergangenen zwei Jahren haben sich mehrere Hashtags in den unterschiedlichen Ländern verbreitet.
Unter dem Stichwort #mosquemetoo erzählten Frauen weltweit von sexuellen Übergriffen in Moscheen oder bei der Pilgerfahrt nach Saudi-Arabien. Die Frauen wollten damit auch mit dem Klischee brechen, dass freizügig gekleidete Frauen selbst schuld seien. „Gerade hat mir so ein widerlicher Typ in Mekka an den Hintern gepackt“, schrieb Nutzerin Nadwaa. „Ich war vom Kopf bis zu den Zehen verschleiert. Nicht, dass wir noch einen Beweis gebraucht hätten. Es geht nicht darum, was ein Mädchen trägt.“
Im Nahen Osten und Nordafrika sind Frauen bis heute vielfach Sexismus, offener Diskriminierung und patriarchaler Bevormundung – oder Schlimmerem – ausgesetzt. Mehr als ein Drittel der Frauen hat in der Region nach UN-Angaben mindestens einmal im Leben Gewalt erlebt. Zudem heiraten 14 Prozent der arabischen Mädchen, bevor sie 18 Jahre alt sind.
Schon während des „Arabischen Frühlings“ 2011 wurden vor allem in Kairo gezielt sexuelle Übergriffe zur Einschüchterung von Demonstrantinnen eingesetzt. Im ägyptischen Fernsehen rief vor einiger Zeit ein konservativer Anwalt dazu auf, dass es die Pflicht jedes Mannes sei, Mädchen zu vergewaltigen, die mit zerrissenen Hosen öffentlich herumliefen. Er wurde schließlich zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt.
Auch wenn große Umwälzungen wohl noch länger auf sich warten lassen, sieht Publizistin Sineb El Masrar die Proteste in den einzelnen Ländern als einen Erfolg. „Jeder Protest bewirkt etwas.“ In Tunesien, das bei den Frauenrechten zu den fortschrittlichsten Ländern der Region gehört, gehen die Proteste weiter. Allerdings: Der Mann von den Fotos, die in Tunis #metoo ausgelöst haben, hat inzwischen seinen Amtseid als Abgeordneter abgelegt.