San Diego/München – Erst die Vollbremsung, jetzt der Neustart? In der Alzheimer-Therapie zeichnet sich eine Wende ab: Nach dem Abbruch zweier Zulassungsstudien im März will die US-Firma „Biogen“ die Antikörper-Arznei „Aducanumab“ doch noch auf den Markt bringen: Bereits 2020 soll ein Antrag auf Zulassung bei der amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA erfolgen, wie gestern bei der Tagung „Clinical Trials on Alzheimer’s Disease“ (CTAD) in San Diego verkündet wurde.
Den „Live-Stream“ mit dieser Ankündigung verfolgten auch einige Forscher in München sehr genau. „Es wäre ein absolutes Novum, wenn mit Aducanumab bei einem bestimmten Patientenkreis der Verlauf der Erkrankung abgebremst werden kann“, sagt Dr. Katharina Bürger, Oberärztin der Gedächtnisambulanz am Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung (ISD) des Klinikums der LMU München. „Allerdings sollten wir nicht voreilig zu große Hoffnungen schüren.“
Das ISD war selbst mit 21 Patienten an der „Emerge“-Studie beteiligt, an der weltweit rund 1600 Patienten teilgenommen haben. Sie ist eine der zwei unabhängigen Phase-3-Studien, die es für die erfolgreiche Zulassung der neuen Arznei braucht. Statt erst eine davon abzuschließen und dann die nächste zu starten, ließ Biogen die Studien parallel laufen. Das ist ein finanzielles Risiko, falls es dann doch nicht klappt: Der Optimismus war also groß.
Mindestens so groß war die Enttäuschung nach einer Zwischenauswertung der Daten Ende 2018: Diese ließen eine Zulassung wohl derart aussichtslos erscheinen, dass Biogen im März dieses Jahres die Notbremse zog. „Emerge“ und auch die zweite „Engage“ genannte Studie wurden eingestellt – und die Hoffnung auf die erste Arznei gegen Alzheimer war dahin.
Doch jetzt zeichnet sich ein „Silberstreif am Horizont“ ab, wie Bürger sagt. Das „Tal der Hoffnungslosigkeit“ sei durchschritten. Dazu muss man wissen: Auch nach der Zwischenanalyse im Dezember bis zum Stopp im März wurden weiter Patienten behandelt und Daten gesammelt. Diese wurden inzwischen ausgewertet – und geben offenbar Anlass zu vorsichtigem Optimismus. „Es ist klasse, dass sich was tut“, sagt Bürger – und warnt zugleich vor zu viel Euphorie: Von einer wirksamen Therapie für alle oder gar einer Heilung sei man weit entfernt.
Um das zu verstehen, muss man wissen, wie Aducanumab wirkt: „Der Wirkstoff bindet an Protein-Klumpen, sogenannte Amyloidplaques, die sich bei einer Alzheimer-Erkrankung im Gehirn ansammeln und die Nervenzellen beschädigen“, erklärt Alzheimer-Forscher Prof. Christian Haass, der auch Sprecher des Münchner Standorts des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) ist. Dadurch werde eine Immunantwort ausgelöst – und die Ablagerungen im Hirn abgebaut. Der Wirkstoff nutzt also die Reaktion des körpereigenen Immunsystems. Von einer „Alzheimer-Impfung“ ist daher manchmal die Rede.
Dabei haben schon frühere Studien gezeigt: Ein Effekt auf die geistigen Fähigkeiten lässt sich damit nur erzielen, wenn man früh mit der Therapie beginnt. Daher nahmen an den Aducanumab-Studien nur Patienten in einem frühen Alzheimer-Stadium teil, die allenfalls leichte Gedächtnisstörungen hatten.
Nach der jüngsten Auswertung zeigte sich nun für einen Teil dieser frühen Patienten der Emerge-Studie eine leichte Verbesserung – wenn die Dosis hoch genug war. Die Zulassung, die 2020 beantragt werden soll, wird sich daher wohl nur auf diese Patienten beschränken. Wer es noch genauer wissen will, kann sich in einer Infoveranstaltung am Donnerstag, 12. Dezember, um 16 Uhr im ISD in München (Feodor-Lynen Str. 17, Großer Seminarraum, 8G U1 155) aufklären lassen.
Dort wird es wohl auch um die Frage der Nebenwirkungen gehen: Aducanumab ist da „nicht unproblematisch“, sagt Bürger. Bei etwa einem Drittel der Patienten komme es zu Hirnblutungen oder Wassereinlagerungen im Hirn. Patienten, die Blutverdünner nehmen – außer niedrig dosiertes ASS – durften daher nicht bei der Studie mitmachen. Zudem wurden Teilnehmer regelmäßig im Magnetresonanztomografen (MRT) untersucht. Das ist aufwendig, teuer und belastend. Wie das in der Praxis gehen soll? „Alles offen“, sagt Bürger: „Bei aller Hoffnung haben wir noch einen weiten Weg vor uns.“ ANDREA EPPNER