Rom – Das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 hat am Wochenende Norditalien erreicht. Es ist der weitaus schlimmste bekannte Ausbruch in Europa. In der stark betroffenen Stadt Codogno waren viele Straßen menschenleer, sie wirkte wie eine italienische Miniaturausgabe der abgeriegelten chinesischen Millionenstadt Wuhan. Unter den Infizierten ist mindestens ein Unilever-Beschäftigter, Mitarbeiter der lokalen Fabrik des Verbrauchsgüterkonzerns tragen auf der Straße Mundschutz – und immer mehr Anwohner tun es ihnen gleich. Etliche Schulen und Geschäfte sind geschlossen.
Für die Menschen Norditaliens ist die rasante Entwicklung kaum zu fassen, Angst greift um sich. Bis Mittwoch schien die Welt noch in Ordnung, nur drei Infektionen waren landesweit bekannt, alle drei wurden früh erkannt. Am Donnerstag folgte der Schock: Bei einem schwer erkrankten 38-Jährigen in Codogno wurde das Virus nachgewiesen. Die italienischen Behörden reagierten schnell, stellten zig Menschen unter Quarantäne, veranlassten umfassende Tests.
Doch das Virus hatte schon längst Dutzende weitere Menschen erfasst, darunter Ärzte und Krankenschwestern der Klinik in Codogno. Unterdessen wurde ein weiterer, zunächst deutlich kleinerer Ausbruch in Venetien bekannt. Dort starb ein 78-Jähriger wohl an Covid-19, wie die Behörden annehmen. Mehr als zehn Menschen in seinem Umkreis sind ebenfalls infiziert. In der Lombardei wurde das Virus bei einer am Donnerstag verstorbenen 77-Jährigen nachgewiesen. Medien berichten von einem dritten Todesopfer, eine Frau. Bis Sonntagabend wurden über 150 Infektionen offiziell gemeldet.
Am Samstagabend griff die italienische Regierung im wirtschaftlich wichtigen Norden hart durch: Knapp ein Dutzend Orte südöstlich von Mailand mit etwa 50 000 Einwohnern sowie Vo in Venetien mit rund 3000 Bewohnern werden abgeriegelt. „Das Betreten und Verlassen dieser Gebiete ist verboten“, sagte Regierungschef Giuseppe Conte. Wer versuche, die Absperrungen zu umgehen, dem drohe „strafrechtliche Verfolgung“.
Der Karneval von Venedig ist seit gestern Abend gestoppt. Alle Auftritte mit vielen Personen wie Sportveranstaltungen, private und öffentliche Schulen sind dicht, sagte Regionalpräsident Luca Zaia. Die italienische Modekammer als Veranstalterin der Fashion Week in Mailand erklärte, jedes Label entscheide autonom, ob es seine Show stattfinden lasse. Designer Giorgio Armani kündigte an, seine Kollektion sei nur online zu sehen. Die Mailänder Scala sagte ihre Aufführungen bis auf Weiteres ab. In Südtirol bereiteten sich die Behörden auf mögliche eingeschleppte Infektionen vor. Kitas bleiben vorerst zu.
Im sizilianischen Hafen Pozzallo gingen gestern 274 Migranten von Bord des Rettungsschiffs „Ocean Viking“ an Land. Sowohl die Migranten als auch die Crew werden in Quarantäne gehalten, um sie zu untersuchen.
Zu drastischen Maßnahmen greift auch Österreich: Der Zugverkehr aus Italien wird seit Sonntagabend ausgesetzt. Ein Eurocity, der in Venedig gestartet war und als Zielort München hatte, wurde am Sonntagabend am Grenzübergang Brenner gestoppt, weil zwei deutsche Frauen an Bord Fieber hatten. Bereits zu diesem Zeitpunkt war ein Teil des Zuges isoliert worden. Auch Regionalzüge wurden angehalten.
Derweil wird nach dem Ursprung beider Ausbrüche gesucht: Wo steckten sich die beiden 38 und 78 Jahre alten Männer an, auf die wohl die weiteren Nachweise in Norditalien zurückgehen? Im Unterschied zum Aufflackern von Sars-CoV-2 in Bayern mit 14 Infizierten gibt es keinen bekannten Ersterkrankten. Möglicherweise brachten Touristen oder Geschäftsleute aus China das Virus mit. Die Statistiker zählen in Italien rund 300 000 Chinesen und jährlich 5,3 Millionen Übernachtungen aus China. Italien trat als erstes westeuropäisches Land mit Pomp dem chinesischen Projekt „Neue Seidenstraße“ bei – jetzt ist sie wohl Einfallstor für das neue Virus geworden.
Nach der noch rasanteren Verbreitung des neuartigen Coronavirus in Südkorea hat die Regierung dort die höchste Warnstufe ausgerufen. Die Zahl der nachgewiesenen Infektionen mit Sars-CoV-2 stieg in Südkorea im Verlauf des Tags um 169 auf 602. Die Zahl der Todesfälle hat sich von vier auf fünf erhöht.
In immer mehr Ländern fällt erst auf, dass das Virus längst große Kreise gezogen hat, wenn Menschen schwer erkranken oder sterben. Auch in etlichen anderen Ländern könnten längst Ausbrüche um sich greifen, von denen bisher niemand ahnt – auch in Deutschland. In so manchem Kommentar im Internet war in den vergangenen Wochen zu lesen, es werde viel zu viel Aufhebens um ein Virus gemacht. Doch gibt es gute Gründe, Ausbrüche so gut wie möglich einzudämmen. Erstens sei nicht genau abzuschätzen, wie die Schwere, Sterblichkeit und die Risiko-Gruppen aussähen, wenn Covid-19 große Bevölkerungsteile erfassen würde, erklärt Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig. „Zweitens haben wir – anders als bei Influenza – keinen Impfstoff gegen Covid-19 zur Verfügung, werden ihn auch nicht rechtzeitig einsetzbar haben.“
Manche Experten hoffen, dass der Covid-19-Erreger in einer Eigenheit dem verwandten Sars-Virus ähnelt: Die Epidemie war nach stürmischem Anstieg 2003 rasch abgeflaut. Ähnlich wie die Grippewelle könnte auch die Covid-19-Welle im Frühjahr abflauen. Sars wurde nach 2003 nie wieder bei Menschen nachgewiesen. Das wird wegen der Zahl der Infektionen bei Covid-19 anders sein.