Bonn – Superspreader, Geisterspiel oder Infodemie: In der Corona-Krise verbreiten sich nicht nur Viren in ungeheurer Schnelligkeit, sondern auch Wörter. Manche sind komplett neu, andere werden in neuer Bedeutung verwendet. Manche – wie Homeschooling oder Lockdown – sind aus dem Englischen entlehnt, andere – wie Spuckschutzhaube oder Übersterblichkeit – typisch deutsch. Wieder andere sind Wortverschmelzungen aus bereits bekannten Elementen, wie etwa die Corona-Party. Und was bislang nur in wissenschaftlicher Fachsprache bekannt war – von Covid-19 bis zur Herdenimmunität – ist in die Alltagssprache eingewandert.
Insbesondere um den Begriff Corona hat sich ein Wortnetz gesponnen. Es reicht vom Begriff „coronisierte Gesellschaft“ über Corona-Bonds bis zum Corona-Ticker und zum Corona-Kabinett. Goldene Zeiten für Sprachforscher also. Etwa für die Sprachjäger der Duden-Redaktion, die wichtigste Rechtschreibinstanz des deutschen Sprachraums. Ständig durchforsten Mitarbeiter und Computer ein riesiges Gebirge aus Zeitungen, Büchern und Alltagstexten, um neue Wörter zu finden und die Häufigkeit ihres Vorkommens zu ermitteln.
Um in den Duden zu gelangen, müssen Begriffe über einen gewissen Zeitraum immer wieder in unterschiedlichen Quellen auftauchen. „Es dürfen keine Eintagsfliegen sein“, sagt Kathrin Kunkel-Razum, Leiterin der Dudenredaktion. Begriffe, die das schaffen, werden zunächst in das Online-Verzeichnis aufgenommen. Und nur, wer sich eine gewisse Zeit lang etabliert, schafft auch den Sprung in den gedruckten Duden, der alle drei bis fünf Jahre neu erscheint. Die Corona-Krise als Labor für die Weiterentwicklung von Sprache: „Ein neuer Wortschatz entsteht, aber wir wissen noch nicht, wie langlebig das ist“, sagt Kunkel-Razum im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
In der Krise greifen Wissenschaftler, Politiker und Medien natürlich auch auf Altbekanntes zurück. Wörter wie Triage, Pandemie oder Coronavirus stehen schon länger im Duden. Auch der Begriff Geisterspiel ist ein Beispiel für ein Wort, das im Sport schon länger eine Rolle spielt, wenn Regelverstöße von Vereinen und Fangruppen bestraft werden. Derzeit lässt sich beobachten, wie der Begriff medial „aufblüht“, wie Annette Klosa-Kückelhaus vom Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim im Fachmagazin „Sprachreport“ schreibt.
Das Coronavirus findet sich als Begriff spätestens seit Anfang des Jahrtausends im deutschen Wortschatz, nachdem die Sars-Epidemie sich von China aus verbreitete. Der Begriff Triage, der das Einteilen von Verletzten nach Schwere der Verletzung beschreibt, geht schon auf das 18. Jahrhundert zurück. Für Sprachforscherin Kunkel-Razum ist wahrscheinlich, dass er sich nicht lange im öffentlichen Sprachgebrauch hält – was ja auch wünschenswert wäre.
Auch der Gabenzaun ist ein eher unscheinbarer Begriff. Ihn gibt es nach Einschätzung von Annette Klosa-Kückelhaus erst seit drei Jahren; er findet sich noch nicht mal im Online-Duden. So neu ist die in einigen großen Städten erfundene Einrichtung, bei der Bürger in Zeiten des „stay at home“ Tüten oder Taschen mit Lebensmitteln, Kleidung oder Hygieneartikeln für Obdachlose an Zäune hängen.
In der Zusammensetzung neu ist die „Infodemie“, eine Wortverschmelzung aus Information und Pandemie. Bekannt gemacht hat ihn die Weltgesundheitsorganisation WHO, die sich Anfang Februar wegen einer Überforderung der Öffentlichkeit durch Corona-Nachrichten sorgte. „Die Infodemie kann auch zu einer Corona-Mattheit führen“, warnte sie. Auch das Corona-Baby ist neu: Ob es sich im Duden etabliert, hängt auch davon ab, ob es in neun Monaten überhaupt höhere Geburtenraten gibt.
Dass mancher in die deutsche Sprache eingesickerte Anglizismus seine Tücken hat, zeigt Linguistin Klosa-Kückelhaus am Beispiel des „Social Distancing“. Gemeint ist, dass die Menschen räumlichen Abstand voneinander halten sollen. Wer den Begriff aber mit „sozialer Distanzierung“ übersetzt, legt nahe, dass man nichts mehr miteinander zu tun haben sollte. Genau das Gegenteil aber ist in der Corona-Krise gefragt: Trotz räumlicher Trennung soziale Kontakte zu pflegen.
REGINA WANK