Kathmandu – Dass Preeti Shakya anders sein könnte als andere Mädchen, hatten die Priester schon früh vermutet. Ihr Geburtshoroskop passte zu dem des damaligen Königs. Und sie erfüllte gut 32 der nach dem Volksglauben notwendigen Perfektionskriterien – etwa Oberschenkel wie ein Reh, eine Brust wie ein Löwe und eine Stimme wie eine Ente zu haben. Den letzten Beweis lieferte dann jene Nacht vor 19 Jahren.
Es ist dunkel, als Preeti in den Tempel gebracht wird. Nur Kerzen beleuchten schwach das Innere. Das Licht flackert unstet über abgetrennte Büffelköpfe. Und die kleine Preeti besteht den Test: Sie bleibt ruhig. Für die Priester ein eindeutiger Beweis dafür, dass sie die Verkörperung einer mächtigen Göttin im Hinduismus ist. Und so wird das Mädchen 2001 nach jahrhundertealter Tradition im Tal von Kathmandu in Nepal eine neue Kumari. Zu diesem Zeitpunkt ist Preeti drei Jahre alt.
Später erinnert sie sich nicht mehr an jene Nacht. Den Hergang erzählt ihr ihre neue Familie, die sie im Kumari-Haus aufnimmt, in das Preeti als Jung-Göttin zieht. Ihre eigenen Eltern sagen später, wie stolz sie auf sie sind. Doch sie sprechen auch von den Tränen, die ihre Mutter weinte, als sie ihre kleine Tochter weggeben musste.
Für Preeti beginnt damit ein klar strukturiertes Leben, ganz anders als es andere Kleinkinder führen: Eine Göttinnen-Verkörperung darf sich unter anderem niemals einen blutenden Kratzer holen. Dem Volksglauben nach würde die Hindu-Göttin dann den Körper des Mädchens verlassen, erklärt Gautam Shakya. Seine Familie kümmert sich seit elf Generationen um die jungen Göttinnen im Kumari-Haus. Als Göttin dürfe Preeti das Kumari-Haus nur 13 Mal im Jahr verlassen, sagt er.
Raus geht es für Preeti nur zu religiösen Festen. Dann wird sie auf einer goldenen Sänfte durch die Menge getragen, die ihr zujubelt und hofft, ihren Segen zu erhalten. Zu diesen Anlässen wird das Mädchen hergerichtet. Rote Kleider und viel Make-up gehören zum Erscheinungsbild, ebenso wie ein in Schwarz, Gold und Weiß gemaltes Auge auf ihrer Stirn. Damit soll sie der Legende nach kilometerweit – oder gar in die Zukunft – sehen.
„Zuerst wusste ich nicht, was ich tat. Aber so mit sechs, sieben Jahren habe ich gemerkt, dass ich segnen kann. Das war schön“, erinnert sich Preeti heute. Die zierliche Frau spricht leise und bedacht. Die positive Energie, die sie den Leuten gegeben habe, habe sie selbst nie gespürt. In ihrer Pflegefamilie hat Preeti damals eine Sonderstellung. Als Göttinnen-Verkörperung bekommt sie vor allen anderen ihr Essen. Das gehöre sich einfach so, erklärt Gautam Shakya. Sie wird auch nie bestraft – anders als die anderen Kinder im Haus. Jeden Tag baden und schminken Frauen der Familie das Mädchen und fast täglich sitzt sie auf ihrem Thron. Dorthin kommen die Anbeter, die sich vor ihr hinknieen und ihr edle Stoffe, Schokolade, Früchte, Geld und Spielsachen bringen.
Am Nachmittag erhält sie Privatunterricht und sie spielt mit den Kindern der Pflegefamilie. Ab und zu sieht sie fern – dann wünscht sie sich, manchmal ihre roten Kleider ablegen zu können. „Da gab es Leute mit modernen Kleidern und das wollte ich auch“, erzählt sie.
Als Preeti elf Jahre alt ist, ist plötzlich alles vorbei. Sie wird zu ihrer leiblichen Familie zurückgeschickt – die sie bisher nur einmal die Woche besuchen kam. „Ich war so traurig. Ich habe nicht verstanden, warum ich das Haus meiner Kindheit verlassen muss.“ Der Grund: ihre Periode. Laut Tradition ist ein Mädchen nur bis kurz vor ihrer ersten Blutung eine Kumari – denn in Nepal gilt die Menstruation als schmutzig.
Inzwischen ist Preeti 22 Jahre alt und lebt in Kathmandu. Sie trägt Jeans, studiert Wirtschaft. Der Übergang ins „normale“ – und ihr damals doch so fremde – Leben war für Preeti schwierig. Bei der eigenen Familie fühlte sie sich zunächst fremd.
Erstmals geht sie zu einer gewöhnlichen Grundschule, zu Fuß. Auf dem Boden, der acht Jahre lang zu schmutzig für sie war. „Ich hatte Angst, dass mich Autos überfahren würden“, erinnert sie sich. Und so begleitet sie ihre Mutter anfangs noch auf dem Schulweg.
Auch heute besucht die junge Frau das Kumari-Haus regelmäßig. „Zuerst war ich etwas eifersüchtig, dass die Leute jetzt ein anderes Mädchen anbeten“, sagt sie. „Aber jetzt ist es okay. Ich genieße meine Freiheit.“ Erkannt wird sie im Innenhof des Hauses nicht mehr.
Anbetende und Touristen starren stattdessen nach oben zu dem Fenster, aus dem ab und zu die neue Kumari schaut – immer nur für ein paar Sekunden. „Oh, das arme Mädchen! Sie ist noch so klein und darf fast nie raus“, sagt eine französische Touristin. Preeti versteht diese Kritik nicht. Für sie gehören die Göttinnenmädchen zur Kultur. Nur etwas gefällt der jungen Frau an der Kumari-Tradition nicht: Viele Menschen glaubten, dass ehemalige Göttinnen ledig bleiben sollten – denn ihre Ehemänner seien dem frühen Tod geweiht. „Das stimmt doch nicht!“, sagt sie, die übrigens noch nicht verheiratet ist.