Berlin/München – D614G. Was nach einem schnöden Aktenzeichen klingt, steht für eine Mutation des neuartigen Coronavirus. Und die soll es in sich haben: In einer noch nicht von Fachkollegen begutachteten „Preprint“-Veröffentlichung schließen Forscher des US-amerikanischen „Scripps Research Institutes“ aus Genomanalysen, dass sie das Virus infektiöser macht als bisher. Unter Laborbedingungen könne der Erreger mehr Zellen infizieren, berichten die Wissenschaftler.
In der Tat soll die D614G-Mutation in Europa und an der Ostküste der USA stark präsent sein. Doch was genau bedeutet das? Verbreitet sich dadurch das Virus tatsächlich – noch – schneller als bisher?
Eher nicht, darin sind sich Experten weitgehend einig. Diese Dominanz sei nicht zwingend auf eine höhere Übertragungsrate oder Virulenz zurückzuführen, sagt etwa Prof. Richard Neher von der Universität Basel, Leiter der Forschungsgruppe Evolution von Viren und Bakterien: Die D614G-Virusvariante habe am Beginn einzelner größerer Ausbrüche gestanden und sich in der Folge stärker ausgebreitet als andere Varianten. „Zufälle spielen gerade am Anfang eine unglaublich große Rolle.“
Tatsache ist: Jedes Virus mutiert und verändert sich. „Bei Sars-CoV-2 sind das zwei bis vier Mutationen im Monat. Die meisten davon haben keine Auswirkung auf die Funktion des Virus“, erklärt Prof. Franz-Xaver Reichl, Beauftragter für die Biologische Sicherheit von Bakterien und Viren am Klinikum der Ludwig Maximilians-Universität. „Anders ist das allerdings, wenn eine Mutation die Proteine auf der Virusoberfläche betrifft, die sogenannten Spike-Proteine. Diese ermöglichen erst den Eintritt des Virus in die menschliche Zelle.“ Eine derzeit bekannte Mutation zeige, dass das Sars-CoV-2 dadurch ansteckender, also infektiöser für Menschen werde – aber nicht gefährlicher!
Prof. Christian Drosten, Chef-Virologe der Berliner Charité, erklärt in seinem Podcast, dass neue Varianten auch neue, für das Virus positive Eigenschaften entwickeln könnten – vereinfacht ausgedrückt. Die entscheidende Frage sei dann, worauf eben dieses in der Evolution optimiert wird. „Auf Übertragbarkeit“, erklärt Prof. Drosten. „Zum Beispiel daraufhin, dass es höhere Konzentrationen macht im Rahmen seiner Replikation.“ Das Virus habe durch diese Art der Mutation schlichtweg bessere Chancen, sich an den Menschen anzupassen.
Was zunächst bedrohlich klingt, kann das Gegenteil bedeuten. Virologe Prof. Hendrik Streeck von der Universität Bonn sagt: Das Virus könne sich einerseits so entwickeln, dass es vom Immunsystem weniger angreifbar sei, „aber gleichzeitig auch schwächer wird“. Das zeige auch die Evolution fast aller anderen bekannten Viren. Nur: „Wir wissen es beim Coronavirus nicht.“ Noch nicht.
Die gute Nachricht lautet allerdings: Sars-CoV-2 sei schon jetzt sehr gut an den Menschen angepasst, davon ist jedenfalls Prof. Friedemann Weber, Direktor des Instituts für Virologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen überzeugt.
Dass eine einzelne Mutation einen großen Unterschied mache, sei vor allem bei einem auf nur ein bestimmtes Enzym wirkendes Medikament denkbar. Viele Medikamente und Impfstoffkandidaten seien indes auf breiterer Basis aufgestellt – und meist unempfindlich gegenüber Einzelmutationen. Ähnlich argumentiert auch Prof. Reichl: „Wichtig ist, dass mehrere Impfstoffe mit verschiedenen Ansatzpunkten entwickelt werden. Darum ist auch die internationale Zusammenarbeit bei der Impfstoffentwicklung unverzichtbar.“ Es sei auch denkbar, dass neue Mutationen immer wieder neue Impfstoffe erfordern – ähnlich ist es bei der Virus-Grippe Influenza, bei der ständig neue Viren um die Welt ziehen.
Aber: Das Ziel eines Virus sei nicht, seinen Wirt zu töten – sondern effizient zur Reproduktion zu nutzen, darin sind sich die Virologie-Professoren Drosten und Streeck einig. Das hieße etwa, das Virus könnte infektiöser werden, jedoch weniger Schaden anrichten – um sich so noch weiter unter Menschen verbreiten zu können. Demnach sei es gut möglich, dass Sars-CoV-2 besser in der Nase repliziert werde. „Das würde uns zwar länger nerven, dafür nicht so tödlich sein.“ Denn: „Es würde sich zu einem Schnupfen entwickeln.“ Das allerdings erst auf lange Sicht.