Lebenslanger Schmerz

von Redaktion

Vor einem Jahr wurde ein siebenjähriger Bub bei einer Gleisattacke in Frankfurt getötet

Frankfurt/Main – Sommer 2019 in Deutschland. Es ist der Morgen des 29. Juli, Ferienzeit. Am Frankfurter Hauptbahnhof warten Reisende auf den ICE nach München. Auch ein Achtjähriger aus dem Hochtaunuskreis will gemeinsam mit seiner Mutter in den Urlaub aufbrechen. Doch dann spielen sich an Gleis 7 plötzlich grauenhafte Szenen ab.

Ein Mann stößt Mutter und Sohn vor den einfahrenden ICE. Der Junge wird vom Zug überrollt und stirbt noch im Gleisbett. Die Frau kann sich gerade noch zur Seite rollen und überlebt knapp. Der Angreifer soll auch noch versucht haben, eine 78-Jährige vor den Zug zu stoßen. Sie fällt auf den Bahnsteig und wird verletzt. Die Polizei fasst wenig später den Tatverdächtigen: einen dreifachen Familienvater aus Eritrea, der zuletzt in der Schweiz gelebt hatte.

In Frankfurt saß der Schock tief. Es gab eine Trauerandacht am Bahnhof. Viele Menschen legten wochenlang Blumen, Kerzen, Plüschtiere und Briefe am Gleis nieder. Der tragische Fall sorgte aber auch in ganz Deutschland für Aufsehen. Bei einer Spendenkampagne im Internet sammelten Unterstützer 115 000 Euro für die Angehörigen.

Sie seien „tief berührt“ gewesen von der Anteilnahme, den Briefen und Spenden zahlreicher fremder Menschen, ließ die Familie jetzt über ihren Anwalt Ulrich Warncke mitteilen. Unzufrieden seien sie jedoch mit den Ermittlungen, etwa mit der Zusammenarbeit zwischen den deutschen und den schweizerischen Behörden.

Die Eltern und die Schwester des Jungen sind demnach weiterhin in psychologischer Betreuung. „Seit dem tragischen Verlust unseres kleinen Sohns und Bruders geht es uns nicht gut, in den vergangenen Monaten stand einzig die Erinnerung und Trauer um unseren kleinen Leo im Vordergrund“, erklärte die Familie. Sein früher Tod sei „der schwerste Schicksalsschlag, dessen Schmerz uns das ganze Leben begleiten wird“.

Der Jahrestag und die anstehende Hauptverhandlung seien besonders schwer zu ertragen, hieß es. Der Prozess gegen den Tatverdächtigen beginnt am 19. August vor dem Frankfurter Landgericht. Die Schwurgerichtskammer muss über den Antrag der Staatsanwaltschaft entscheiden, den 41-Jährigen dauerhaft in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen. Die Anklage legt ihm Totschlag, versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung in zwei Fällen zur Last. Das Gericht erklärte, auch Mord sowie versuchter Mord in zwei Fällen kämen infrage, „sofern die Beweisaufnahme ergeben sollte, dass der Beschuldigte unter bewusster Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit der Opfer (Heimtücke) gehandelt hat“.

Nach der Attacke demonstrierten Bundesregierung und Bahn schnell Handlungsbereitschaft. Zumal nur wenige Tage vor der Tat eine Frau in Voerde in Nordrhein-Westfalen von einem ihr völlig unbekannten 28-Jährigen vor einen Zug gestoßen und tödlich verletzt worden war. Man wolle „konsequent auf Abschreckung setzen“, erklärte Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) im September. So sollten „nahezu alle großen Bahnhöfe“ bis Ende 2024 mit moderner Videotechnik ausgestattet werden. Darüber hinaus seien 1300 zusätzliche Bundespolizisten für Patrouillen an Bahnhöfen geplant, hieß es damals. Da die Beamten noch ausgebildet werden müssen, sollen die Stellen aber erst bis 2024 besetzt sein.

Bundesregierung, Bahn und Bundespolizei errichteten zudem eine gemeinsame Arbeitsgruppe, die für mehr Sicherheit sorgen soll, wie die Bahn jetzt mitteilte. Verschiedene Maßnahmen sollen „unter realistischen Bedingungen auf ihre tatsächliche Wirksamkeit“ hin geprüft und bewertet werden. Dies betreffe zum Beispiel die Einrichtung von Zugangsbeschränkungen zu Bahnsteigen, die Simulation von Gittern vor den Bahngleisen oder das Aufbringen von Markierungen an Bahnsteigkanten. Laut den Angaben mussten jedoch bereits geplante Prüfungen wegen der Corona-Pandemie verschoben werden. JENNY TOBIEN

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