Genua – Sie werden alle da sein. Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella soll die Brücke als Erster in der Limousine befahren und dann das Band zur Einweihung zerschneiden. Ministerpräsident Giuseppe Conte und Mitglieder seines Kabinetts werden kommen. Genuas Bürgermeister Marco Bucci und der gesamte Stadtrat wollen da sein. Journalisten aus aller Welt werden am kommenden Montag die Einweihung der neuen Autobahnbrücke in Genua dokumentieren. Es soll ein Fest sein, ein Freudentag. Eine 1067 Meter lange Autobahnbrücke, 19 Pfeiler, neu gebaut in nicht einmal zwölf Monaten. Italien hat ein kleines Wunder vollbracht.
Zwei Jahre ist es her, dass die alte Morandi-Brücke, die wichtige Verkehrsader, die den Westen Genuas mit dem Osten der Stadt verband, teilweise einstürzte. Dutzende Fahrzeuge stürzten in die Tiefe, als am 14. August ein Sommergewitter über der Stadt niederging. 43 Menschen starben bei dem Unglück, es war eine nationale Katastrophe. Eine eingestürzte Autobahnbrücke mitten in Italien, auf einer Strecke, die gerade zur Sommerzeit täglich tausende Urlauber befahren. Es war eine Schmach. Italien war erst ganz unten, jetzt möchte es ganz oben sein. Normalität kann dieses Land ganz offensichtlich nicht.
Wer nicht kommen wird zur Einweihung ist Egle Possetti. Am 14. August 2018 war ihre Schwester aus Pinerolo bei Turin mit ihrem Ehemann und zwei Kindern unterwegs in die Sommerferien. Es sollte nach Riva Trigoso in Ligurien gehen, der Weg führte über die Morandi-Brücke. Als Possetti am 14. August 2018 mitbekam, dass in Genua eine Autobahnbrücke eingestürzt war, versuchte sie ihre Schwester zu erreichen. Erst über den Familien-Chat bei WhatsApp, dann per Telefon. Niemand antwortete, auf keinem der vier Telefone. Possetti machte sich mit einer furchtbaren Vorahnung nach Genua auf und hatte wenig später die Gewissheit: Ihre Schwester, deren Mann sowie die beiden Kinder im Alter von 16 und zwölf Jahren befanden sich in ihrem Auto auf der Morandi-Brücke, just als diese einstürzte.
„Ich glaube nicht, dass ich diese Brücke jemals betreten werde“, sagt Possetti, die Vorsitzende des Komitees ist, das die Familienangehörigen der 43 Todesopfer gegründet haben. Allein der Anblick bereite ihr Schmerzen. Denn auch wenn Italien am 3. August diesen wundervollen Neubau feiern wird, hat er für Possetti und die Opferfamilien eine ganz andere Bedeutung. Man könnte Possettis Gemütslage in folgender Frage zusammenfassen: Wenn die Menschen in einem Land dazu fähig sind, in weniger als einem Jahr eine architektonische, statische und ingenieurstechnische Meisterleistung zu erbringen, warum sind sie dann nicht in der Lage, den Einsturz einer Brücke zu verhindern? Wovon hängt es ab, von welcher Seite sich Italien zeigt?
Schließlich ist die Brücke nicht wegen des Gewitters am Unglückstag eingekracht, sondern wegen von Menschen zu verantwortenden Versagens. Die Stahlträger der 50 Jahre alten Morandi-Brücke waren verrostet, das haben Untersuchungen ergeben. Instandhaltung und Wartung wurden nur unzureichend ausgeführt. Die Staatsanwaltschaft Genua ermittelt gegen 74 Personen, die Verantwortung für das Unglück tragen könnten. Ingenieure der Autobahngesellschaft „Autostrade per l’Italia“ sind darunter, aber auch Funktionäre des Verkehrsministeriums in Rom. Im September wollen die Ermittler mit ihrer Arbeit fertig sein, dann könnte bald der Strafprozess beginnen.
Im Land, in dem die Dinge normalerweise langsam vor sich gehen, ging alles sehr schnell. Als das Morandi-Viadukt noch nicht einmal vollständig abgerissen war, begannen bereits die Vorbereitungen für den Neubau. Nur zehn Monate dauerte dieser, eine Rekordzeit für das 202 Millionen Euro teure Objekt. Nach dem Einsturz 2018 hatte die Regierung den Notstand in Genua verhängt, die üblichen, komplizierten Prozeduren konnten auf diese Weise umgangen werden. Bucci war es auch, der in Abstimmung mit der Regierung zwei der größten italienischen Baufirmen, Fincantieri und Salini Impregilo, mit dem Neubau beauftragte.
Zwei Jahre nach dem Brückeneinsturz hat Genua ein neues, hochmodernes und sogar ästhetisch ansprechendes Autobahnviadukt. In der Politik ist nun oft vom „Modell Genua“ die Rede, das Vorbild für die rasche und effektive Fertigstellung anderer Projekte im Land sein soll. In ihrem Gesetzesdekret zur Entbürokratisierung nach Corona verkürzte die Regierung die Prozeduren für die Vergabe öffentlicher Aufträge.
Egle Possetti hofft, dass der Prozess gegen die Verantwortlichen sich nicht ewig in die Länge zieht. Sie will Gewissheit haben, wer welche Verantwortung beim Einsturz der Morandi-Brücke trug. „Ich verstehe nicht, wie diese Leute ruhig schlafen können“, sagt sie. Am 3. August ist Einweihung der Sankt-Georgs-Brücke, zwei Tage später soll die Brücke dann auch für den normalen Verkehr befahrbar sein. Es ist Ferienzeit, wie vor zwei Jahren werden nicht nur Lastwagen, sondern auch zahllose Pkws mit Familien über die Brücke fahren. Manche Reisende werden auf Höhe Genua aufs Meer hinausblicken. Und vielleicht gar nicht wissen, über wie viele Geschichten sie in diesem Moment hinwegfahren.