Madrid – Nachdem gestiegene Zahlen von Neuinfektionen auf den Kanarischen Inseln dazu führten, dass das beliebte Urlaubsland Spanien komplett als Corona-Risikogebiet gilt und das Auswärtige Amt eine Reisewarnung aussprach, stellen sich Experten die Frage, warum es das Land und auch Frankreich wieder so hart trifft. Die beiden benachbarten Länder haben ja wochenlange, scharfe Corona-Beschränkungen mit hartem Lockdown hinter sich. Im Vergleich dazu steht Deutschland wesentlich besser da. Irgendetwas muss in Südwesteuropa falsch oder zumindest anders laufen. In Deutschland versuche man aktuell, das Infektionsgeschehen besser zu verstehen, indem man gezielter teste, sagt der Kölner Virologe Rolf Kaiser dem WDR laut dem Portal von ntv. Während man hierzulande alle „Glutnester“ aufgedeckt habe, sei in Spanien und Frankreich nicht mit der gleichen Intensität getestet worden.
Als weitere Stimme meldete sich der Charité-Virologe Christian Drosten im NDR-Podcast zu Wort, wo er auch die Vermutung äußerte, dass in Frankreich unerfasste Infektionen eine Rolle spielen könnten. Drosten zufolge bestehe die Gefahr, dass Menschen ihre Infektion verstecken und immer mehr Cluster mit vielen Infizierten entstehen. Dann könne ein Schwelleneffekt mit „schlagartig“ vielen Fällen entstehen. „Ich habe das Gefühl, das ist, was wir gerade in Frankreich sehen im Moment.“
In der Bundesrepublik wurden pro Tag Anfang September etwa 15 Menschen von einer Million positiv auf Sars-CoV-2 getestet, in Frankreich sind es mehr als drei Mal so viele, noch mal heftig übertroffen von Spanien mit mehr als zehn Mal so vielen. Nahezu 5000 Neuinfektionen waren es in Frankreich jüngst. Am Ende der letzten Woche registrierte die Gesundheitsbehörde des Landes ein „exponentielles Wachstum“, die Zahl der Neuinfektionen lag am vergangenen Freitag dann bei fast 7400 innerhalb von 24 Stunden. Solche Zahlen wurden zuletzt Anfang April gemeldet. Daher musste die Regierung inzwischen 21 Départements als Risikogebiete klassifizieren Diese roten Zonen liegen meist, aber auch nicht ausschließlich an der Mittelmeerküste und rund um Paris.
Pedro Sánchez, Spaniens Ministerpräsident, ist der Meinung, dass der Anstieg der Corona-Neuinfektionen mit dem regen Nachtleben in Madrid zusammenhängt. „Die Gründe (für den Anstieg) sind klar. Die Mobilität, das Nachtleben. Die Menschen sind nachlässiger geworden“, sagte er in einem Radio-Interview. Der spanische Forscher Miguel Otero-Iglesias wies gegenüber dem WDR außerdem darauf hin, dass Spanien ein Land sei, wo sich die Leute sehr viel berühren: „Man küsst sich, man feiert und man spricht auch mit sehr viel Intensität.“ Einen weiteren Gegensatz zu Deutschland sehen Experten im schlecht ausgebauten System zur Kontrolle der Pandemie: „Viele Regionen haben über Wochen versäumt, das Früherkennungssystem auszubauen und die Koordination zwischen den für die medizinische Grundversorgung zuständigen Gesundheitsämtern und den epidemiologischen Fachdiensten zu verbessern“, kritisiert Hernández-Aguado, der verschiedene spanische Regionalregierungen in der Pandemie berät. Außerdem fehlt in Spanien in großem Umfang das Personal, um die Kontakte der Infizierten zu verfolgen und die Quarantäne-Auflagen auch zu überwachen.
Der Ministerpräsident erläutert, die Behörden seien dabei, die Nachverfolgung der Infektionsketten in bestimmten Regionen mit Nachholbedarf zu verbessern. Der Region Madrid stelle ferner die Zentralregierung Personal und finanzielle Mittel zur Verfügung.
Notstandsmaßnahmen wie von März bis Juni erteilt Sánchez eine Absage. Die derzeitige Lage sei mit derjenigen von März „überhaupt nicht zu vergleichen“, sagte er laut ntv im Radio. Überdies sinkt das Durchschnittsalter der Infizierten in Spanien wie in anderen Ländern auch. Deshalb dürften die Zahlen der Todesfälle im Covid-19-Zusammenhang mit einigen Dutzend pro Tag deutlich unter den Werten von März und April liegen. In Frankreich gibt es eine ähnliche Entwicklung der Todesfälle. Auch die Regierung in Paris spricht sich nicht für radikale Eingriffe aus. Wichtig sei es, in sogenannten Clustern entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, erklärte Präsident Macron. Generelle Grenzschließungen ergäben keinen Sinn, wenn es Gebiete mit aktiver Virus-Zirkulation gebe, die identifiziert seien. Auch hier breitet sich Corona außerdem vor allem unter jungen Leuten aus, etwa 80 Prozent der positiv Getesteten haben den Gesundheitsbehörden zufolge keine Symptome.
Von Entwarnung kann trotzdem keine Rede sein: In Spanien stehen angesichts stark steigender Corona-Zahlen in manchen Regionen die Gesundheitszentren wieder vor dem Kollaps. Besonders in Aragón, Katalonien, im Baskenland und in der Hauptstadt sei die Situation „alarmierend“, warnte der Präsident der Gesellschaft der Familienärzte, Salvador Tranche.
Hinzu kommt, dass die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für die spanische Wirtschaft ein schwerer Schlag ist. Die Saison war auch bisher schon katastrophal für die Tourismusbranche, die in normalen Zeiten mehr als zwölf Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beiträgt und etwa 2,5 Millionen Menschen Arbeit bietet. Auf den Kanaren macht der Anteil des Tourismus am BIP sogar rund 35 Prozent aus – keine andere Region Spaniens ist so sehr vom Reisegeschäft abhängig. 2019 wurden die Inseln vor der Küste Marokkos von etwa 2,65 Millionen Touristen aus Deutschland besucht. Damit lagen die Deutschen deutlich hinter den Briten (knapp fünf Millionen), aber klar vor den Spaniern (knapp zwei Millionen) auf Platz zwei.
„Es ist nicht verhältnismäßig, die gesamten Kanaren unter die Reisewarnung zu stellen, obwohl sich die Infektionszahlen nur auf einige wenige Gebiete beschränken“, kritisierte der Deutsche Reiseverband DRV, der vor allem Veranstalter und Reisebüros vertritt. Betroffen seien nur die Städte auf Gran Canaria und Teneriffa. „Risikogebiete sollten möglichst zielgenau und differenziert ausgewiesen werden – ähnlich wie dies in Deutschland bereits auf Landkreisebene geschieht“, forderte der DRV. Pauschale Warnungen würden den Realitäten in den Ländern nicht gerecht.
Mit Tschechien meldet auch einer von Deutschlands östlichen Nachbarn einen Rekord an Corona-Neuinfektionen. In 24 Stunden kamen 650 Fälle hinzu, wie aus Daten des Gesundheitsministeriums hervorging. Das waren so viele wie noch nie an einem Tag seit Beginn der Pandemie. Die Zahl der aktiv Infizierten überschritt die 7000er-Marke. 425 Todesfälle wurden mit einer Covid-19-Erkrankung in Verbindung gebracht.