„Es war eine große Dummheit“

von Redaktion

Scheiben eingeschlagen: Haftstrafe für jungen Randalierer nach Stuttgarter Krawallnacht

Stuttgart – Immer wieder holt er aus und schleudert das massive Windlicht gegen den Polizeiwagen. Glas zersplittert, die Menge der Gaffer grölt dazu im Lichtschein der Straßenlaternen. Auf mehreren wackeligen Handyvideos aus jener Juni-Nacht ist der 18-Jährige deutlich zu erkennen. Wie er wirft, wie er sich umdreht und stolz auf seine jubelnden Freunde zugeht.

Fünf Monate später sitzt der junge Mann aus dem württembergischen Gaildorf auf der Anklagebank im Stuttgarter Amtsgericht. Schweigend schaut er sich mit seinem Verteidiger und dem Richter die Videos auf dem Fernseher an, auch seine Eltern sehen zu. Am Ende des ersten öffentlichen Verfahrens zur Stuttgarter Krawallnacht fällt das Jugendschöffengericht ein überraschend hartes Urteil. Die Kammer schickt den 18-jährigen Deutschen wegen besonders schweren Landfriedensbruchs und versuchter schwerer Körperverletzung für zweieinhalb Jahre in Haft. Erstaunen im Gerichtssaal, der Angeklagte scheint die Worte des Richters zunächst nicht recht einordnen zu können.

Denn das Strafmaß liegt sogar deutlich über den Plädoyers von Verteidigung und Staatsanwaltschaft, die sich beide für eine Jugendstrafe auf Bewährung ausgesprochen hatten. Auch die Betreuerin des Jugendamtes hatte in dem mehrstündigen Verfahren deutlich gemacht, dass sich der junge Mann auf dem richtigen Weg befinde. „Das Urteil ist nicht akzeptabel, mein Mandant ist entsetzt“, sagt Anwalt Marc Reschke kurz nach dem Urteilsspruch. Er wird Berufung einlegen.

Offen ist also nicht nur das endgültige Strafmaß. Unbeantwortet bleibt nach dem Verfahren auch die Frage, warum der 18-Jährige in jener Nacht zu denen gehörte, die sich brutal, grölend und betrunken gegen Polizei und Recht gewendet haben. „Für die Tat hat es weder am Tatabend einen konkreten Anlass gegeben noch in Ihrem ganzen Leben“, heißt es in der Urteilsbegründung von Richter David Schenk. „Wie kommt man auf die Idee, derart gegen einen Streifenwagen vorzugehen?“

Eine Antwort konnte der junge Mann nicht geben. Oder er wollte nicht, auch das bleibt im Unklaren. Es sei eine „große Dummheit gewesen“, lässt der 18-Jährige über seinen Anwalt erklären, er selbst betont: „Ich bin weder rechtsstaatsfeindlich noch polizeifeindlich.“ Die Masse habe ihn mitgerissen. „Ein bisschen war es auch der Alkohol, ein bisschen Frust wegen Corona.“ Mehr braucht es anscheinend nicht, um in einer solchen Nacht auszurasten. Oder?

Der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner hat eine Erklärung: „Es ist nachvollziehbar, dass man sich vergisst in der Dynamik“, sagt er. „Es gibt Momente, in denen man in eine Gruppenbewegung hineingezogen wird. Man gibt dann seine Individualität auf, verliert seine Selbstkontrolle und seine Normen.“

Oder hat der 18-Jährige einfach Pech gehabt, weil er als Angeklagter im ersten öffentlichen Prozess im Rampenlicht steht? Anwalt Reschke hält sich mit einer Vermutung zurück. „Das ist ein Hauruck-Urteil, das sich auf andere auswirken wird“, sagt er lediglich. Dagegen betont Gerichtssprecherin Monika Rudolph, mit dem Urteil werde keineswegs ein Exempel statuiert. In einem ersten nicht öffentlichen Urteil habe Richter Schenk einen anderen angeklagten Randalierer auch bereits zu einem Jahr Jugendstrafe verurteilt, die aber zur Bewährung ausgesetzt wurde. Insgesamt erwartet das Amtsgericht bis zu 100 Prozesse zur Krawallnacht. Bei den Tatverdächtigen handelt es sich l um deutsche, irakische, türkische, rumänische und italienische Staatsbürger. Der nun verurteilte 18-jährige Deutsche hatte kosovarische Wurzeln. MARTIN OVERSOHL

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