Explosion der Gewalt in den USA

von Redaktion

Mordraten schnellen in die Höhe – Ursachen-Debatte: Von Pandemie-Folgen bis zu passiver Polizei

VON FRIEDEMANN DIEDERICHS

Washington – Der Schusswechsel am frühen Sonntagmorgen vor einem Musik-Lokal in Miami dauerte nur eine halbe Minute. Am Ende lagen zwei Menschen sterbend am Boden, 21 wurden teilweise schwer verletzt. Drei vermummte Männer hatten auf die afro-amerikanische Menge das Feuer eröffnet, einige der ins Visier genommenen Besucher einer Rap-Veranstaltung schossen zurück. Die Polizei spricht von einer Auseinandersetzung rivalisierender Gruppen – und setzte eine Belohnung von umgerechnet 100 000 Euro für Hinweise aus. Doch viele von diesen wird es nicht geben. Denn in vielen US-Metropolen gilt es unter Minderheiten als ungeschriebenes Gesetz, nicht mit den in diesen Kreisen verhassten Cops zu kooperieren.

Die blutige Nacht von Miami ist nur ein Beispiel für die Explosion der Gewalt, die derzeit die US-Metropolen heimsucht – und könnte gleichzeitig auch als Musterbeispiel für die Ursachen dienen. Denn die steigenden Todeszahlen kommen zu einem Zeitpunkt, wo zum einen die Beschränkungen durch die Corona-Pandemie stark gelockert wurden, zum anderen die Anti-Cop-Bewegung nach dem Mord an dem Afro-Amerikaner George Floyd dazu geführt hat, dass vielerorts die bisherige Finanzierung der Polizei infrage gestellt und gleichzeitig Ordnungshüter ihr Vorgehen gegenüber Verdächtigen hinterfragen. Das „Wall Street Journal“ zitierte in einer ausführlichen Analyse der Sicherheitslage einen Polizisten aus Oakland (Kalifornien) mit den Worten: Er fürchte sich zum ersten Mal. Nicht, weil die Verbrecher gewalttätiger geworden seien, sondern weil er seine Karriere, seine Freiheit oder sein Leben verlieren könne, wenn er bei einem Widerstand leistenden Verdächtigen Gewalt anwenden müsse. Also unterwerfe er jeden Einsatz einer Kosten-Nutzen-Analyse.

Zögerliche Ordnungshüter, durch die Pandemie aufgestaute Aggressionen, leicht verfügbare Waffen und eine unverminderte Gewaltbereitschaft vor allem bei Jugendgangs in Minderheiten-Vierteln – das sind die Zutaten zu dem tödlichen Mix, den auch die US-Polizeigewerkschaft letzte Woche mit einem Twitter-Beitrag beklagte. Die „in den Himmel schießenden Mordraten“ (gegenüber Vorjahreszeitraum): Minneapolis 56 Prozent. Philadelphia 40 Prozent. Washington 35 Prozent. New York und Chicago mit jes 22 Prozent mehr Morden schneiden noch gut ab – obwohl dort der Trend unvermindert weitergeht.

Auch das „Center for Criminal Justice“ bestätigt die deutliche Verschlechterung der Sicherheitslage. Der von dem Institut im März veröffentlichte Bericht stützt sich auf Daten aus zwei Dutzend US-Metropolen und analysierte: Der Anstieg von Mordraten in zweistelliger Prozentsatz-Höhe abseits von normalen Fluktuationen von Jahr zu Jahr sei „sehr besorgniserregend“. In diesem Zusammenhang bemerkt das „Wall Street Journal“, dass proaktive Polizeiarbeit deutlich zurückgegangen sei – wie in Minneapolis, wo seit dem letzten Sommer – dem Höhepunkt von Protesten und Unruhen – Stopps von Verdächtigen durch Polizisten um rund 50 Prozent abgenommen hätten. Eine tödliche Spirale: Denn nun tragen mehr Gangmitglieder Waffen, weil die Chancen, dass sie gestoppt werden, gering sind. Gleichzeitig begannen Polizeidirektionen, jene Einheiten infrage zu stellen oder aufzulösen, die den illegalen Waffenbesitz bekämpfen sollen. Der Grund: Bei deren Einsätzen waren zwangsläufig überdurchschnittlich viele Schwarze ins Visier geraten – was Kritikern nicht gefiel.

Wirksame Aktionen gegen die fatale Entwicklung sind daher nicht in Sicht. Und das zwingt manche Bürger zum Handeln. Waffenläden kommen seit Monaten mit der Nachfrage nach Pistolen, Revolvern und Munition nicht mehr nach.

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