Kanadas dunkles Geheimnis

von Redaktion

Zeugen eines „kulturellen Genozids“: Tausende Knochenfunde erschüttern das Land

Vancouver – Als Ende Mai die Überreste von mehr als 200 Kindern von Ureinwohnern bei einem früheren Internat in Westkanada entdeckt wurden, war Crystal Fraser nicht überrascht. „Wir wissen seit Jahrzehnten, sogar mehr als einem Jahrhundert, dass viele unserer Vorfahren und unmittelbaren Familienmitglieder nicht von den Internatsschulen nach Hause kamen“, sagt sie. Fraser ist Historikerin an der Universität von Alberta und auch Angehörige der indigenen Gruppe der Gwichyà Gwich’in.

Doch was sie hat kommen sehen, rüttelt weite Teile Kanadas dieser Tage auf: Knochen von über 1000 Menschen wurden seit Ende Mai durch den Einsatz neuer Technologie im Umkreis ehemaliger Anstalten gefunden. Diese Umerziehungs-Internate für Töchter und Söhne von Ureinwohnern sollten „den Indianer im Kind töten“, wie Fraser es ausdrückt. Lange hatte das als weltoffen geltende Kanada seine dunkle Geschichte ignoriert. Nun erhöhen die Knochenfunde den Druck auch auf Ottawa.

Die Internate in Kanada existierten mehr als 100 Jahre. Ihren Anfang nahmen sie mit einer ersten Schule des Franziskanerordens im 17. Jahrhundert. Ein System aber entstand erst nach der Gründung der kanadischen Föderation 1867 – die von der Regierung 2008 eingesetzte Wahrheits- und Versöhnungskommission zählte 139 Schulen, die indigene Kinder zwangsweise besuchen mussten. Die letzten wurden 1996 geschlossen, schätzungsweise 150 000 Kinder waren betroffen.

„Wir wissen nun, dass es ein System des Völkermords war“, erklärt Expertin Fraser. Körperliche und sexuelle Misshandlungen waren bei den von der Kirche betriebenen Anstalten an der Tagesordnung. Die Kinder wurden unter anderem dafür geschlagen, wenn sie sich in ihrer Sprache unterhielten. Die Wahrheits- und Versöhnungskommission nannte das Vorgehen in ihrem Abschlussbericht „kulturellen Genozid“.

Mit dem System hatten die kanadischen Siedler Fraser zufolge versucht, die freien indigenen Völker einzugemeinden, ihnen heteronormative Vorstellungen, Sprache und den Kapitalismus aufzudrängen. Brutale Behandlung und Überfüllung der Institutionen führten dabei zu vielen Toten: Die Schüler seien unter anderem an Krankheiten, Unterernährung oder bei Unfällen zum Beispiel mit kaputten landwirtschaftlichen Geräten gestorben.

„Es würde mich nicht wundern, dass, wenn man das Gelände jeder Internatsschule in Kanada durchsucht, die Zahl der Toten in den Zehntausenden liegen könnte“, so Fraser weiter. Die Sterblichkeitsrate habe in einigen Institutionen in bestimmten Jahren bei bis zu 70 Prozent gelegen. Nun wird überall im Land auf früheren Schularealen mit neuartiger Radartechnik nach nicht gekennzeichneten Gräbern gesucht.

Bis jetzt wurden dabei mehr als 1500 Tote in mehren kanadischen Provinzen entdeckt – und jede neue Entdeckung sendet Schockwellen durchs Land. „Ich weiß, dass diese Entdeckungen nur den Schmerz verstärken, den Familien, Überlebende und alle indigenen Völker und Gemeinschaften bereits empfinden“, sagte Ministerpräsident Justin Trudeau. Doch während der Premier versuchte zu beruhigen, reagierten andere mit offener Wut.

Mehrere Kirchen, die auf dem Land indigener Gruppen stehen, wurden in Brand gesteckt oder verwüstet. Trudeau – selbst Katholik – verurteilte die Gewalt, äußerte sich aber auch verständnisvoll: Die Wut sei „real und völlig verständlich angesichts der beschämenden Geschichte, deren wir uns alle bewusster werden“.

Crystal Fraser spricht derweil von ihrer Trauer darüber, was alles hätte sein können, wenn die Kinder nicht gestorben wären – über die Leben, die nie gelebt wurden. Eines davon sei das ihrer Großtante, die in einer der Anstalten an einer Krankheit starb. „Soweit ich weiß, wurde ihre Leiche nie geborgen“, so Fraser. BENNO SCHWINGHAMMER, NATALIE SKRZYPCZAK

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