Stuttgart – Sieht man einmal von seinem Schnurrbart ab, ist Michael Aschenbrenner eher von der unauffälligen Sorte. Ruhige Stimme, adrette Frisur, angenehme Art. Kein Gesicht, das man sich zwangsläufig einprägt. Dafür prägt sich der 32-Jährige andere Gesichter umso besser ein. Michael Aschenbrenner ist „Super-Recogniser“ (abgeleitet vom engl. recognize = erkennen) bei der Stuttgarter Polizei. Das bezeichnet eine einfache wie besondere Gabe: Er kann gut Gesichter wiedererkennen. Zwei Prozent der Bevölkerung besitzen die Fähigkeit nach Schätzung der Wissenschaft. Einer davon ist Aschenbrenner. Mit Erfolg: Er und sein Team aus vier Dutzend weiteren „Super-Recognisern“ haben nach der Stuttgarter Krawallnacht im Sommer 2020 etwa jeden Zweiten der rund 140 Tatverdächtigen wiedererkannt.
Eher durch Zufall fand die Wissenschaft vor wenigen Jahren heraus, dass es Menschen gibt, die Gesichter nicht vergessen oder auf verschwommenen Fotos Menschen wiedererkennen können. Nützlich im Kampf gegen Verbrechen. Polizisten werden geflutet mit verwackelten Fahndungsfotos und dunklen Bildern aus Überwachungskameras, auf denen nur Konturen zu erkennen sind. Dann kommt Michael Aschenbrenner ins Spiel. Er koordiniert rund 50 „Super-Recogniser“ allein im Polizeipräsidium Stuttgart. Sie können Gesichter von Verdächtigen nicht nur auf Bildern identifizieren, sondern auch in Menschenmassen gut wiedererkennen.
Was ein wenig nach Superheldencomics und actionreichem Abenteuer klingt, gestaltet sich im Alltag als eher dröge Tätigkeit. Michael Aschenbrenner sitzt in seinem Büro im Präsidium und blickt in den Rechner. Bunt leuchten die Fahndungsfotos auf dem Bildschirm auf. Seine Augen zucken zwischen den Bildern hin und her, er gleicht sie ab mit den Fotos aus dem Archiv. „Irgendwann brennen die Augen“, sagt er. Trotzdem liebt er seinen Job. Das liegt auch am Erfolg der jungen Spezialisten-Truppe. Die Krawalle waren der Lackmustest für Stuttgarts „Super-Recogniser“. „Das war unsere Feuertaufe“, sagt Aschenbrenner. Das baden-württembergische Innenministerium setzt immer häufiger auf die „Super-Recogniser“. Beamte mit dieser Begabung sollen künftig an allen Polizeipräsidien im Land eingesetzt werden. Mittlerweile kann sich jeder Polizeischüler auf die Begabung testen lassen. Auch die Polizei in Hessen und Bayern nutzt die Wiedererkenner.
Eine ganz ähnliche Arbeit macht Friedrich Rösing aus Blaubeuren im Alb-Donau-Kreis. Der 77-jährige Professor ist einer der wenigen forensischen Anthropologen in Deutschland. Rösing hilft in Gerichtsprozessen, Täter auf Fotos zu identifizieren und damit zu überführen. Sogar eineiige Zwillinge könne sein Berufsstand unterscheiden, so Rösing. Er begrüßt die Arbeit der „Super-Recogniser“. Ihre Konkurrenz fürchtet er nicht. Vor Gericht brauche es weiter den forensischen Anthropologen, sagt Rösing. Im Gegensatz zu Aschenbrenner geht Rösing wissenschaftlich-methodisch vor, er hangelt sich an 260 Merkmalen entlang: Steht das Ohr ab? Hängt der Nasenboden? Ist der Mund schräg?
Bei Aschenbrenner hingegen macht es einfach „Klick“ – dann weiß er, dass er ein Gesicht schon mal gesehen hat. Immer wieder ist er auch draußen im Einsatz, hält Ausschau nach Taschendiebbanden in der City oder nach Hooligans im Stadion. Sein Talent ist allerdings auf den visuellen Bereich beschränkt: „Namen kann ich mir überhaupt nicht merken!“