„Dutzende könnten noch leben“

von Redaktion

Die Versäumnisse im Fall des mordenden Krankenpflegers Niels Högel

Frankfurt – „Es gibt keine andere Tötungsserie in dieser Dimension.“ Das sagt der frühere Reporter Karsten Krogmann über den Fall des Krankenpflegers Niels Högel, der in Oldenburg und Delmenhorst jahrelang mindestens 91 Menschen getötet hat. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, im nächsten Jahr stehen Högels Vorgesetzte vor Gericht. Mit seinem Co-Autor Marco Seng arbeitet Krogmann den Fall jetzt im Buch „Der Todespfleger“ auf.

Herr Krogmann, warum haben Sie das Buch geschrieben?

Weil es notwendig ist. Wir haben es hier mit einem Fall zu tun, der von höchster gesellschaftlicher Relevanz ist. Wir müssen uns die Frage stellen, wie ein Krankenpfleger fünf Jahre lang an ver- schiedenen Orten mindestens 91, vielleicht hunderte Menschen töten konnte. Das wirft Fragen nach Lücken im System auf – aber auch nach fehlender Zivilcourage. Ist die Angst zu groß, einen Kollegen anzuschwärzen? Oder vor Rufschädigung und wirtschaftlichen Verlusten? Der Fall Högel zeigt, dass man dutzende Morde hätte verhindern können, wenn Leute mutiger gewesen wären.

Diese Angst, Kollegen „anzuschwärzen“, gab es auch in anderen Fällen wie Polizeiskandalen …

Ich glaube, es ist ein generelles Problem, wenn sich Hierarchien verfestigen. Im Fall Högel fiel etwa Kollegen auf, dass es vermehrt Reanimationen gab, oder es wurden verdächtige Ampullen gefunden. Dann sagte ein Vorgesetzter sinngemäß: „Kümmere dich um deinen eigenen Kram.“ Und es geschah nichts. Es ist wichtig, da eine persönliche Verantwortung zu fühlen und weiter auf Aufklärung eines möglichen Missstands zu pochen.

Anfang 2022 stehen Högels Vorgesetzte vor Gericht. Was kann das bewirken?

Die Urteile selbst sind für mich gar nicht so wichtig. Es ist das erste Mal, dass nach einer Tötungsserie die Vorgesetzten des Täters sich verantworten müssen für das, was sie nicht getan haben. Das ermöglicht die wichtige öffentliche Diskussion um moralische Verantwortung.

Inwiefern hat auch die Justiz versagt?

Indem sie den Fall lange nicht aufgeklärt hat. Es gab sehr früh Hinweise auf eine Tötungsserie, nachdem Högel 2005 am Bett eines Patienten auf frischer Tat ertappt wurde. Die Polizei war schnell auf dem richtigen Weg. Aber die Justiz zeigte kein großes Interesse, das aufzuklären.

Woran liegt das?

Eine Schwäche im System ist, dass unsere Justiz Täter-orientiert denkt. Man hat Högel dann wegen fünf Fällen angeklagt, das genügte aus strafrechtlicher Sicht. Er wurde ja auch zu lebenslanger Haft verurteilt. Aber es genügte natürlich nicht mit Blick auf die anderen Opfer. Eine umfassende Aufklärung der Geschehnisse gab es erst viele Jahre später.

Einige Fälle können nie aufgeklärt werden, weil die Opfer eingeäschert wurden. Was bedeutet eine späte Aufklärung für die Familien?

Viele Familien hatten bereits die Trauerarbeit hinter sich. Manche wurden dann zehn oder 15 Jahre nach dem Tod ihres Angehörigen damit konfrontiert, dass er viel- leicht ermordet wurde. Es gab Menschen, die immer schon ein komisches Gefühl hatten und die Ermittlungen gut fanden. Andere haben sich dagegen gewehrt, weil es die Wunden wieder aufgerissen hat.

Es wurden seitdem Kontrollmechanismen in Kliniken eingeführt. Wäre ein Fall Högel noch einmal möglich?

Ich glaube, dass man sich kaum vor einem entschlossenen Mörder schützen kann. Aber ich beobachte eine zunehmende Sensibilisierung. Die Leichenschau wurde verändert, es gibt Whistleblowing-Systeme. Deswegen denke ich, dass so ein Fall schneller auffallen würde. Aber das Vertuschen erfolgte offenbar auch aus ökonomischen Gründen. Man hatte Sorge um den Ruf der Klinik, um finanzielle Einbußen. Und diese Profitorientierung des Gesundheitssystems besteht ja unverändert fort.

Interview: Pia Rolfs

Artikel 2 von 10