Moskau – Seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis in der russischen Wolga-Metropole Saratow fürchtet Sergej Saweljew um sein Leben. Der junge Mann hat Unmengen an Videomaterial aus dem Knast geschmuggelt, um die Abgründe des Strafvollzugs öffentlich zu machen. „Es sind Bilder schrecklicher, sadistischer Szenen“, sagt der 31-Jährige, der in Frankreich Asyl erhalten hat. Zu sehen sind nackte gefesselte Gefangene, die auf jede erdenkliche Weise gequält werden.
„Dass in Russland Gefangene gefoltert werden, ist nichts Neues. Aber das Ausmaß, das nun bekannt wird, übertrifft alles Vorstellbare“, zeigt sich der russische Menschenrechtler Wladimir Ossetschkin erschüttert. Er veröffentlicht in sozialen Netzwerken immer wieder gepixelte und viel beachtete Aufnahmen von der rohen Gewalt in Straflagern.
Breites Entsetzen lösten nun die Videos aus dem Gefangenen-Krankenhaus in Saratow aus. Saweljew arbeitete dort in der Video-Überwachung – und hatte so Zugang zu den Dateien. Nach seiner Freilassung übergab er sie an Ossetschkin, der Russland 2015 verlassen hat. Beide Männer leben in Biarritz im politischen Asyl. Sie reden fast täglich mit internationalen Medien, arbeiten mit Dokumentarfilmern. Ihr Ziel ist es, die bisher wohl größte Enthüllung von Gewalt in russischen Gefängnissen öffentlich zu machen.
Russlands Starmoderatorin Xenia Sobtschak traf Saweljew gerade in Frankreich zum Interview für ihren Videokanal. Sie nennt ihn einen „Helden neuen Typs“ und stellt ihn in eine Reihe mit Whistleblowern, die staatliche Missstände öffentlich machen.
Eine „Bombe von 100 Gigabite“ hat sie ihren Film mit Blick auf die Datenmenge genannt. Zu Wort kommen auch misshandelte Gefangene, die von einem System der Angst und des Wegsehens berichten. Mehr als zwei Millionen Menschen haben den Film bisher bei Youtube aufgerufen. In anderen Ländern würden bei solchen Skandalen Regierungen stürzen, sagt Sobtschak. Nicht aber in Russland. Zwar sind die von Saweljew beschuldigten Beamten aus dem Strafvollzug entlassen. Festnahmen gab es bisher aber keine. Stattdessen hat die Justiz gegen Saweljew Haftbefehl erlassen und ihn zur Fahndung ausgeschrieben. Russlands Medien-Aufsichtsbehörde versucht zudem, die Videos etwa bei Youtube sperren zu lassen.
Der aus Belarus stammende Saweljew und der 40-jährige Ossetschkin sagen, sie bekämen nun Morddrohungen. Beide wissen, dass Russlands Geheimdienste einen langen Arm haben. Die Liste ermordeter russischer Regierungskritiker ist lang. Ossetschkin wirft dem Strafvollzug und dem Inlandsgeheimdienst vor, ein System der Unterdrückung geschaffen zu haben. „Obwohl alle sehen können, was in den Straflagern vor sich geht, gibt es keine objektiven Ermittlungen“, sagt er. „Klar ist vielmehr, dass man uns vernichten will.“
Menschenrechtler sehen mehrere Gründe für die Gewalt, die oft nicht die Wächter selbst ausüben, sondern Mitgefangene. Mitinsassen könnten sich so Vorzüge wie mildere Urteile, vorzeitige Freilassung oder auch nur Alkohol erkaufen. Aufnahmen von Folter dienten zudem der Abschreckung, um von Gefangenen Geld zu erpressen. Eingesetzt werde die Gewalt aber nicht zuletzt, um Straftäter zu brechen, umzuerziehen oder ein Geständnis zu erpressen. Wer als Ermittler Schuldige präsentiert, kann auf Boni und Beförderung hoffen.
Die Moderatorin Sobtschak fordert, das System des Strafvollzugs zu zerschlagen und neu zu bilden. Dass es dazu kommt, sei unwahrscheinlich. Kurzzeitig könnten Saweljews Enthüllungen aber zu weniger Folter führen.